
"Alle bekloppt...". Ich bin, glaube ich, nicht der Einzige, der das in den vergangenen Jahren immer wieder gedacht hat. Oder täglich denkt. Der Ausruf ist zudem ein Eingeständnis der eigenen Unfähigkeit, in einem transformativen Abschnitt der Geschichte den Überblick zu bewahren. "Alle bekloppt..." ist ein Zeichen dafür, dass man aufgibt zu verstehen und sich ins Private zurückzieht. Gleichzeitig fühlt sich das gerade jetzt falsch an. Einfache Urteile helfen auch nicht weiter, im Gegenteil, sie sind Teil des Problems. Verstärkt wird das Problem durch die Komplexität der Fragen, mit denen man sich konfrontiert sieht. Wie positioniert man sich zu den Dingen?
Es gibt gegenwärtig viele Augenblicke, in denen die Welt vermeintlich einfachen Urteile verweigert. Wenn ein politischer Kommentator ermordet wird, dem zugleich vorgeworfen wird, Hass gesät zu haben, entsteht eine doppelte Abscheu: Einerseits die Abscheu vor dem mörderischen Akt, andererseits jene Genugtuung, die sich in manchen feierlichen Reaktionen regt: „Es geschieht ihm recht.“
Ambivalenz und ihre Grenze
Kant würde uns mahnen, dass Gewalt immer falsch ist, egal gegen wen sie sich richtet. Arendt würde hinzufügen, dass Gewalt nicht mit Macht verwechselt werden darf. Macht ist gemeinsames Handeln, Gewalt ist der Zusammenbruch des gesellschaftlichen Konsens. Doch beide Positionen, so erhellend sie sind, reichen nicht aus, um ein ambivalentes Problem zu lösen. Besonders dann nicht, wenn es um die Frage geht, wie sich die innere und äußere Demokratie weiterentwickeln soll.
Hier tritt Karl Popper auf den Plan. Sein Toleranzparadoxon zeigt die scharfe Kante: Eine tolerante Gesellschaft muss das Recht beanspruchen, die Intoleranten nicht zu tolerieren. Ambivalenz endet dort, wo sie zur Selbstzerstörung führt.
Im Falle offen nach außen getragener Gewalt ist die Grenze einfach zu ziehen. Doch die Ermordung eines politischen Gegners ist nur der Endpunkt einer Entwicklung, nicht deren Anfang.
Die Gewalt der Sprache
Gewalt beginnt bekanntermaßen nicht erst mit der Tat. Sie beginnt in der Sprache. Wer permanent gesellschaftliche Gruppen diffamiert, entmenschlicht, verspottet, bereitet den Boden, auf dem physische Gewalt gedeihen kann. Worte sind keine harmlosen Meinungen, sie sind Handlungen. Schon die Nationalsozialisten wussten das – das Hetzblatt "Der Stürmer" war nicht nur Propaganda, es war die ständige Wiederholung, die den Antisemitismus salonfähig machte. Wiederholung tötet die Empörung, weil sie Menschen abstumpft.
Heute sind es nicht mehr Karikaturen auf Zeitungspapier, sondern Memes in endlosen Feeds. Pedro, Black Pill, Groyper und andere aus Internetforen hervorgegangene neofaschistische Bewegungen, fluten das Internet mit ihren Botarmeen seit Jahren mit grenzwertigem Content. „Nur Ironie“, sagen ihre Verteidiger. Aber auch Ironie wirkt, wenn sie sich in ständiger Repetition ins kollektive Bewusstsein frisst. Das Gleiche gilt auch für religiöse oder dem linken Autoritarismus zugehörige Bewegungen.
Das Overton Window – Verschiebung des Sagbaren
Das Konzept des Overton Window beschreibt, wie Meinungen, die einst unsagbar waren, Schritt für Schritt normalisiert werden. Aus dem „Undenkbaren“ wird das „Radikale“, dann das „Diskutable“ – bis es schließlich im Zentrum der Debatte steht. Genauso wurde Antisemitismus in den 20er und 30er Jahren zur Massenmeinung. Genauso werden heute Diskursräume von Extremisten geschaffen, die dann von etablierten Parteien aufgegriffen werden. Und genau so arbeiten heute die Feeds der digitalen Gegenwart: durch ständige Wiederholung, durch die Verschiebung der Grenzen des Erträglichen.
Ambivalenz wird dabei selbst zur Falle. Denn wer sagt: „Man muss doch beide Seiten sehen“, trägt ungewollt zur Normalisierung bei. Wenn Sprache systematisch entmenschlicht, dann ist Ambivalenz nicht mehr Reflexion – sondern eine schleichende Kapitulation.
Byung-Chul Han und die Infokratie
Byung-Chul Han spricht in diesem Zusammenhang von einer Infokratie. In einer Welt, in der alles Information ist, verschwimmt der Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge, Ernst und Ironie. Das Meme, der schnelle Post, die endlose Wiederholung – all das wirkt nicht durch Argumente, sondern durch Überflutung. In dieser Flut wird jede moralische Unterscheidung erodiert.
Han beschreibt, wie diese ständige Reizüberflutung zu Apathie führt. Nichts scheint mehr ernst gemeint, alles ist Content. Doch genau diese Beliebigkeit öffnet den Raum für Intolerante: Ihre sprachliche Gewalt tritt nicht mehr als Gewalt auf, sondern als „eine weitere Stimme im Rauschen“. Es sorgt auch für eine moralische Kapitulation. Wenn alles gesagt werden darf, wenn die Grenzen permanent verschoben werden, wie kann da eine gesellschaftliche Moral und Ethik überleben?
Frühere Bindeglieder, wie die Religion oder der Wunsch, ein gemeinsames gesellschaftliches Ziel zu erreichen (Wiederaufbau, Futurismus) sind verschwunden. In das Vakuum der Orientierungslosigkeit hatte sich lange der wirtschaftliche Konsum gesetzt, doch der scheitert dieser Tage an seinem eigenen Erfolg und der monetären horizontalen Disparität des Neoliberalismus.
Zygmunt Bauman und die Sehnsucht nach Halt
Hier setzt Zygmunt Bauman an. Seine Diagnose der Liquid Modernity beschreibt eine Welt, in der alles instabil ist: Identitäten, Institutionen, Wahrheiten. In dieser „flüssigen Moderne“ sehnen sich Menschen nach Orientierung. Algorithmen der Social Media Apps liefern diese Orientierung scheinbar mühelos: Sie bauen Echokammern, die Bestätigung statt Irritation bieten.
Die Anziehungskraft dieser Blasen erklärt sich also nicht nur aus Propaganda, sondern aus einem zutiefst menschlichen Bedürfnis nach Sicherheit. Wer sich in der algorithmischen Blase bewegt, erlebt sich selbst nicht als manipuliert, sondern als Teil einer vermeintlichen Mehrheit. Und genau darin liegt die Gefahr: Die Infokratie stabilisiert den Haltlosen, indem sie ihn in einer Echokammer festbindet.
Die ständige Wiederholung bestimmter Themen, die wirtschaftliche Hoffnungslosigkeit mancher Bevölkerungsschichten in der westlichen Zivilisation und das Versagen vor allem linksliberaler Parteien, wie der SPD in Deutschland oder der Demokraten in den USA, die ihre fundamentalen gesellschaftlichen Überzeugungen aufgegeben haben, sind eine toxische Mischung, in der extreme politische und religiöse Rhetorik gedeihen kann. Sie wird angenommen, nicht weil man ihr mehr vertraut, sondern weil sie die scheinbar einzige Möglichkeit für den Einzelnen bietet, überhaupt noch politischen Einfluss in einer selbst empfundene Zwangslage zu nehmen.
Popper und die wehrhafte Demokratie
Wenn wir Zygmunt Bauman ernst nehmen, dann verstehen wir die Schwäche der Einzelnen besser. Aber Verstehen bedeutet nicht, dass wir sprachliche Gewalt dulden dürfen. Hier greift wieder Popper: Er erinnert uns daran, dass genau das der Moment ist, in dem die Demokratie Grenzen ziehen muss: Sie darf Intoleranz nicht schützen, auch wenn sie „Mehrheitsmeinung“ in einer Blase zu sein scheint.
Bauman erklärt uns, warum Menschen so leicht in Echokammern verharren. Popper zeigt uns, dass wir ihnen dennoch nicht das Feld überlassen dürfen. Ambivalenz mag eine Haltung der Reife sein – aber dort, wo sie zur Lähmung führt, wird sie selbst zum Risiko. Demokratie verlangt, dass wir verstehen, warum Menschen Halt suchen, ohne ihnen das Recht einzuräumen, diesen Halt in der Intoleranz zu finden.
Was ist die Lösung?
Ideen kann man nicht verbieten. Die Geschichte hat oft genug gezeigt, dass sie im Untergrund weiterleben, manchmal noch gefährlicher als zuvor. Doch es wäre ebenso falsch, sprachliche Gewalt einfach hinzunehmen, als sei sie nur ein schriller Ton im Konzert der Meinungen. Poppers Warnung gilt: Eine Demokratie darf Intoleranz nicht schützen, auch wenn sie sich in einer Blase zur vermeintlichen Mehrheitsmeinung aufbläht. Das darf aber nicht beim Autoritarismus enden.Die Antwort liegt also nicht allein im Verbot, sondern im Zusammenspiel: rechtliche Grenzen, kulturelle Gegenrede, strukturelle Resilienz. Hetze darf nicht unter dem Banner der Meinungsfreiheit marschieren. Doch genauso wichtig ist es, die Mechanismen sichtbar zu machen, mit denen Sprache zur Waffe wird. Wir müssen ihre Wiederholungen entlarven, die ironischen Masken herunterreißen, eigene Geschichten dagegenstellen.
Und wir müssen die Strukturen angehen, die das Gift verstärken. Algorithmen, die Radikales belohnen, dürfen nicht weiter als neutrale Technik gelten. Öffentliche Räume, die nicht dem Zynismus der Klickökonomie folgen, sind kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit. Bildung, so mühsam und langwierig sie ist, bleibt die einzige Impfung gegen die Verführungen der Echokammern.
Es gibt keine endgültige Lösung. Bauman hat recht: In der flüssigen Moderne ist alles instabil, und genau darin liegt die Sehnsucht nach Halt, die Menschen so anfällig für die falschen Gewissheiten macht. Doch Popper erinnert uns daran, dass wir nicht zusehen dürfen, wenn dieser Halt in Intoleranz gesucht wird.
Am Ende bleibt nur diese Haltung: Die offene Gesellschaft ist verletzlich und sie muss es bleiben, weil ihre Stärke in der Freiheit liegt. Aber gerade deshalb darf sie nicht naiv sein. Sie muss lernen, Ambivalenz auszuhalten und gleichzeitig Grenzen zu ziehen, wenn Ambivalenz zur Waffe der Intoleranten wird.
„Die vornehmste Grundlage eines glückseligen Lebens aber ist dies, dass man weder Unrecht tut noch von anderen Unrecht erleidet. Hiervon ist nun das Erstere nicht so gar schwer zu erreichen, wohl aber so viel Macht zu erwerben, dass man sich gegen jedes Unrecht zu sichern vermag, und es ist unmöglich auf eine andere Weise vollkommen zu derselben zu gelangen als dadurch, dass man selber vollkommen tüchtig dasteht. Und ebenso ergeht es auch einem Staate, ist er tüchtig, so wird ihm ein friedliches Leben zuteil, ist er es nicht, so bedrängt ihn Fehde von innen und außen". Platon

Ich bin ja in den 70er und 80er-Jahren aufgewachsen. Also mit deutscher Trennung, Kaltem Krieg und allem, was so dazu gehört. Wobei ich gerade denke: ach ja, das gehört ja nur zu meinem Leben, nicht mehr zum Leben derjenigen, die ab Mitte der 80er-Jahre geboren wurden. Diese Generationen sind dankenswerterweise nur in Friedenszeiten aufgewachsen. Zumindest, was die großen, weltweiten Konflikte angeht. Aber ich erinnere mich sehr gut an die Zeit des Kalten Kriegs zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt.
Die Auseinandersetzung beider Blöcke war ein Teil des Alltags. Die Teilung Deutschlands und der eiserne Vorhang waren ein tägliches Thema in den Nachrichten. Sendungen wie "Kennzeichen D" oder das legendäre, propagandistische "ZDF-Magazin" mit Richard Löwenthal (samt des Pendants "Der schwarze Kanal" in der DDR) erinnerten einen im Wochenrhythmus daran, was los war. Es gab aber auch viele Dinge außerhalb der Medien, die mich daran erinnerten, dass die Zeiten angespannt waren. Was daran lag, dass ich in Bonn aufgewachsen bin, wo sich auf wenigen Quadratkilometern der ganze Konflikt politisch konzentrierte.
Hat mich das damals angestrengt? Habe ich permanent darüber nachgedacht? Sicher nicht. Dafür gab es zwei Gründe. Zum einen war ich jung. Ein Teenager. Da hat man andere Sorgen und an das Ende der Welt denkt man sowieso nicht. Zum anderen war der Kalte Krieg Normalität im Alltag. Es war ein drolliger Nicht-Kriegszustand. Hier und da wurden Spione verhaftet, Botschaftspersonal abgeschoben und einmal im Jahr stellten irgendwelche Wissenschaftler die Doomsday-Clock um eine Minute näher an 12 Uhr. Klar, das Potenzial von über 60.000 Nuklearwaffen in den Arsenalen der beiden Blöcke reichte, um Angst auszulösen.
Aber die meisten Menschen, die ich kannte, hatten keine Angst. Das war eher Fatalismus. Es war klar, dass Bonn im Falle eines Konflikts ein Ziel der sowjetischen Raketen sein würde. Die permanente Bedrohung führte dazu, dass alle nur mit den Schultern zuckten. Tatsächlich war die Angst vor einem nichtnuklearen Krieg viel größer. "Wenn die Russen kommen...." war ein Schreckenssatz, denn niemand wollte unter russischer Herrschaft in einer Art DDR2 leben. Aber in einem Atompilz sterben? Was soll man schon machen?

Kalter Krieg - aber von drei Seiten
Seit 2022 redeten wieder viele Menschen über einen Kalten Krieg 2.0. Und dass es wieder zwei Blöcke sind, die sich gegenüberstehen. Erneut die NATO, dieses Mal gegen Russland und China. Und ich kann da nur zustimmen, wenn es um die Frage geht, dass wir einen erneuten Kulturkampf erleben. Statt Kapitalismus vs. Kommunismus ist es dieses Mal Neokapitalismus vs. kapitalistischen Autokratismus. Ein bisschen Pest vs. Cholera. Aber ich lebe am Ende dann doch lieber in einer Demokratie, in der es immerhin die Chance gibt, dass man sie und das Wirtschaftssystem verändert, als in einer Autokratie. Natürlich geht es auf internationaler Bühne um mehr. Es geht um Imperialismus, hegemoniale Strukturen und schlichtweg Macht. Aber am Ende ist es ein politischer Kulturkampf, in dem es nicht um die Frage nach dem richtigen Wirtschaftssystem geht (da sind sich alle einig), sondern um die Frage, ob die Demokratie oder die Autokratie das bessere Modell ist.
Die Zuspitzung und die Bildung der ideologischen Blöcke kommen für die meisten überraschend. Russland ist zu schwach, hat man immer gedacht. Und China zu sehr abhängig von den Exporten. "Wandel durch Handel" war die letzten 30 Jahre der Zauberspruch, mit dem sich der demokratisch gebende Kapitalismus durch die Globalisierung gefräst hat. Aber seit mindestens 15 Jahren hat sich eine andere Lage ergeben und wir erleben jetzt, dass sich wieder ein Kampf der Systeme entwickelt.
Die für manche überraschende Entwicklung der letzten Jahre ist aber, dass die USA sich ebenfalls von Europa abwenden. Die sich mit einer Mischung aus Polykratie, Faschismus und Autokratie zugewandte US-Regierung hat die westliche Weltordnung, die seit 80 Jahren Bestand hatte, aufgekündigt. Neu ist das allerdings nicht. Schon die Biden-Regierung hatte den Fokus der USA von Europa in Richtung Indo-Pazifik verschoben.
Unterbrochen würde das politisch nur durch den Angriff Russlands auf die USA. Zwar hatte die Biden-Regierung diesen Angriff auch als Gefahr für die eigenen Sicherheitsinteressen betrachtet, aber die nur sehr zögerliche Aufrüstung der ukrainischen Armee mit modernen Flugzeugen, Panzern und die Weigerung, HIMARS für Angriffe auf russisches Territorium zu nutzen, waren nicht hilfreich. Die Armee der Ukraine war so in die Position der Defensive gedrängt. Und aus Europa kam auch nur zögerlich Unterstützung.
Faschismus unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit
Was mich aber in der Tat überrascht, ist der Fakt, dass die USA sich nun auch tiefgreifend politisch in die EU einmischen. Die gestrige Rede des Vizepräsidenten Vance bei der Münchner Sicherheitskonferenz kam einem Eklat nahe. Ausgerechnet den Europäern vorzuwerfen, dass sie die Meinungsfreiheit unterdrücken und zurück zu demokratischen Werten finden sollten, war eine diplomatische Unverschämtheit. Immerhin weiß man aber jetzt, wo man steht.
Die EU ist, zumindest für die nächsten vier Jahre, eingezwängt zwischen den libertären, neo-kapitalistischen und autoritären USA, der Putin-Diktatur und dem autoritären, hegemonialen Staatskapitalismus in China. Als einziger großer Block im Westen scheint die EU das letzte Bollwerk der Demokratie in dieser Hemisphäre zu sein. Oder etwas figurativer ausgedrückt: Die EU ist zwischen zwei Blöcken eingeklemmt, die ein Interesse daran haben, das gesellschaftliche demokratische Fundament Europas zu zerstören.

Ich bin davon überzeugt, dass wir am Anfang eines Systemkampfs stehen. Und dass man nur mit einem eindeutigen Lagerdenken dazu in der Lage sein wird, den Systemkampf politisch zu überstehen. Ähnlich wie im Kalten Krieg: "Wenn Du auf unserer Seite bist, bist Du ein Freund. Wenn nicht, dann schließen wir Dich aus".
Was mich manchmal erstaunt, ist die Tatsache, dass das offenbar nur wenige so sehen. Velina Tchakarova, bis Anfang 2023 Direktorin des Österreichischen Instituts für Europa- und Sicherheitspolitik, hat den etwas holprigen Begriff "DragonBear" geprägt. Damit meint sie die politische und militärische Allianz zwischen China und Russland. Während viele, die Partnerschaft zwischen beiden Ländern als eine Art Not-Bündnis für Russland sehen, versteht sie darunter mehr. Es geht um die Aufteilung von Hemisphären. China hätte gerne Asien und den Pazifik, Russland gerne Europa. Kontrolliert man diese beiden Sphären, sind die USA nur noch eine Randerscheinung. Das ist, vereinfacht gesagt, der Block, der Autokraten, der sich gebildet hat, und an den sich andere autokratische Staaten (Iran) anlehnen.
Das bedeutet auch, dass wir zusätzlich zum fundamentalen, geopolitischen Wandel auch einen Diskurswandel erleben. Menschen, die Autokratien bevorzugen oder Nationen, die zusätzlich auch noch religiös geprägt sind, teilen weder die gleichen Diskussionsgrundlagen noch das ethisch/moralische Wertebild, dass die zumindest die letzten 30 Jahre vorherrschend war (ob das Bild richtig und/oder gut war, lasse ich mal offen).
Die Wahl von Trump, der aus seinen autokratischen Ambitionen kein Geheimnis macht, ist ein Zeichen. Ein anderes ist, dass die Tech-Bros um Musk, Thiel und Andresen (plus weitere Neoliberale) ebenfalls eine Art Autokratismus etablieren wollen, allerdings eher als Form einer feudalen Oligarchie. Sie glauben an einen gefährlichen Mix aus genetischer Überlegenheit, autokratischen Machtstrukturen und sind fest überzeugt, dass nur sie die Menschheit retten können. Wie das Experiment in den USA ausgeht, ist offen, aber wie oben beschrieben spüren wir hier die Auswirkungen.
Das bedeutet aber auch, dass man in Deutschland, zumindest im Moment, keine Kompromisse zwischen den Lagern finden wird. Und schon gar nicht, wenn sich Russland und China in einer Position der Stärke vermuten. Die Angriffe auf die demokratischen Systeme, zum Beispiel durch die AfD, wo führende Mitglieder autokratische Propaganda betreiben, oder durch die Partei BSW, die gleich ganz offen russische Argumente teilt, sind ernst. Denn sie spalten die Gesellschaft, statt Einigkeit zu schaffen.
Handungsunfähigkeit galore
Doch was mich allerdings zutiefst beunruhigt: Große Teile der Politik und der Wirtschaft haben noch nicht verstanden, dass es eine fundamentale Verschiebung gegeben hat. Man hat den Eindruck, dass viele den Bruch in der Geschichte nicht ernst nehmen und immer noch glauben, dass es nach zwei, drei Jahren wieder eine Rückkehr zum System geben wird, das bis 2019 vorherrschte. Doch das kann man zügig widerlegen.
Das deutsche Wirtschaftsmodell der letzten 20 Jahre basierte auf folgenden Säulen:
- Billiges Gas aus Russland
- Billige Importe wichtiger Grundstoffe (Lithium, Magnesium etc.) aus China
- Ständig wachsende Exporte und Verkäufe in China
- Niedrige und/oder stagnierende Löhne im Inland
- Verlagerung der inländischen Produktion ins Ausland (China), um mehr Profite zu machen
- Verschiebung sämtlicher militärischer Verantwortung in die USA
Das ist alles vorbei und wird so schnell auch nicht wiederkommen. Während man aber das Gas und die günstigen Metalle irgendwie ersetzen kann, wird das bei den Exporten und Verkäufen in China nicht der Fall sein. Die Abhängigkeit vor allem der deutschen Industrie von China ist derartig groß, dass man sich fragt, wie blind Manager in den letzten zehn Jahren eigentlich sein konnten.
Immerhin hat die KP in China nie einen Hehl daraus gemacht, dass man ein autokratisch geprägtes Land ist und das auch bleiben wird. Die Ableitung internationaler Manager war aber, dass die KP im Grunde einen westlichen Kapitalismus anstrebt, der von ihr reguliert wird. Und dass alle im Grunde dasselbe wollen: Geld. Dabei wurde übersehen, dass Geld nur das Vehikel für hegemoniale Bestrebungen ist.
Und es ist auch nicht so, als würden Russland und China ein Geheimnis daraus machen.
Die Pläne liegen offen
Das ellenlange Abschlusskommunique (Link zu China Daily) des letzten Staatsbesuches Putin in China listet glasklar auf, was man vorhat: In der Erklärung heißt es, es sei ein „objektiver Faktor“, dass „der Status und die Stärke aufstrebender wichtiger Länder und Regionen im ‚Globalen Süden‘ kontinuierlich zunehmen“ und dass sich der Trend zur Multipolarität der Welt beschleunigt.
Weiter heißt es, dass China und Russland „das Potenzial der bilateralen Beziehungen voll ausschöpfen werden“, um „die Verwirklichung einer gleichberechtigten und geordneten multipolaren Welt und die Demokratisierung der internationalen Beziehungen zu fördern und Kräfte für den Aufbau einer gerechten und vernünftigen multipolaren Welt zu sammeln“.
Diese Erklärung ist absolut außergewöhnlich und wird die Welt wahrscheinlich für die nächsten Jahrzehnte prägen. Russland und China haben ausdrücklich erklärt, dass sie zusammenarbeiten, um eine neue „gleichberechtigte und geordnete multipolare Welt und die Demokratisierung der internationalen Beziehungen“ zu schaffen und um den hegemonialen Bestrebungen der USA ein Ende zu setzen. Schluss mit der Verstellung, es passiert wirklich.
Ich weiß nicht, wie man noch deutlicher ausdrücken kann, was man plant und umsetzen will. Das gilt auch für das "Project 2025" aus den USA, das detailliert präsentiert, wie sich die momentane Administration die Zukunft vorstellt. Aber das interessiert offenbar große Teile der Wirtschaft in Deutschland nicht. Was verständlich ist, wenn man weiß, dass zum Beispiel die deutsche Autoindustrie derartig von China abhängig ist, dass sie sofort Bankrott sein wird, wenn auch nur winzige Bereiche der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zum Erliegen kommen.
Wenn die EU und vor allem Deutschland weiter so blauäugig die inneren und äußeren Feinde ignorieren, wenn man weiterhin die Abhängigkeiten von offensichtlich feindlich eingestellten Staaten erhöht, dann wird der nächste Kalte Krieg nicht zu gewinnen sein. Wenn man weiter versucht, Autokraten oder Parteien, die populistische, autokratische Weltbilder propagieren, "zu verstehen" und mit dem eigenen Weltbild zu überzeugen, werden die Demokratien scheitern. Es gibt keine Diskussionsgrundlage, wenn Faschisten und Autokraten genau diese Grundlagen ablehnen und abschaffen wollen.
Handeln - jetzt!

Im Kalten Krieg der 70er und 80er Jahre wäre es undenkbar gewesen, dass man, abgesehen mit den Verbündeten, große Abhängigkeiten riskiert. Die Resilienz eines Staates bestand vor allem daraus, dass man
a) die eigene Infrastruktur kontrollierte
b) die Produktion wichtiger Güter im eigenen Land sicher stellte
c) die Produktion kriegswichtiger Güter doppelt absicherte und Reserven vorhielt.
d) die eigene defensive Wehrhaftigkeit auch innerhalb von Europa in die eigenen Hände nimmt.
Das schaffte nicht nurUnabhängigkeit, sondern auch das Selbstbewusstsein, einem eventuellen Kriegsfall nicht unvorbereitet gegenüberzustehen. Ob mit oder ohne den USA, die EU muss wirtschaftlich unabhängig und wehrhaft sein. Es schafft auch das Selbstbewusstsein, welches hinter dem alt-lateinischen Spruch "Si vis pacem para bellum" steckt. Wenn du Frieden willst, bereite Krieg vor.
Das Gleichgewicht der Kräfte der 80er-Jahre, das auf diesem Sinnspruch auf beiden Seiten herrschte, ist im Moment nicht vorhanden. Sonst hätte Russland sich nicht getraut, die Ukraine anzugreifen. Sonst würde China keine seemilitärische Übung veranstalten, die eine Besetzung Taiwans nachstellt und sonst würde der Iran nicht weiter mit seinen Proxy-Armeen den Frieden im Nahen Osten gefährden und Israel bedrohen.
Ohne das Gleichgewicht der Kräfte wird das alles weiterhin passieren und wenn die EU, zur Not auch ohne die Hilfe der USA nicht in der Lage ist, dieses Gleichgewicht in Europa herzustellen, wird der neue Kalte Krieg für Europa schnell ein Ende finden. Am Ende steht dann ein halb durch Russland besetzter und kontrollierter Kontinent, der von der hegemonialen Wirtschaftspolitik Chinas vollkommen abhängig ist.
Und der Unterschied zum Kalten Krieg in den 1980er Jahren ist, dass ich dieses Mal tatsächlich Angst habe. Nicht vor einem Krieg (noch nicht), sondern davor, dass uns die Demokratie durch Hände gleitet, weil mittelmäßige, ängstliche Politiker in der EU nicht in der Lage sind, die richtigen Entscheidungen zu treffen.
"Denkst Du, man kann regieren und dabei moralisch unschuldig bleiben?" (Sartre, Die schmutzigen Hände)

Wir reden gerade viel über Anstand und Moral in der Politik. Und darüber, ob es so was in der Politik überhaupt noch gibt. Wobei die Frage nach der Moral ja dehnbar ist. Nicht jeder teilt alle moralischen Positionen einer anderen Person. Das mag religiöse Gründe haben, das mag sich in politischen Überzeugungen äußern. Die Frage nach der "richtigen Moral" beschäftigt Philosophen seit Jahrtausenden. Eine Antwort darauf gibt es bis heute nicht und sie wird vermutlich auch nicht gefunden werden, weil Moral ja auch etwas ist, was durch den Zeitgeist bestimmt werden kann. Gleiches gilt für die Frage nach dem Anstand.
Aber man kann sich zumindest in der Zeit, in der man lebt, auf einen moralischen Kompass einigen. Und die Geschichte der Menschheit hat auch gezeigt, dass bestimmte moralische Positionen sich immer wiederholen. Grundsätzliche moralische Positionen sind von vielen beschrieben worden, zuletzt auch von Hannah Arendt. Und besonders wichtig sind Grenzen des Anstands und der Moral (also was man nicht machen sollte) in der Politik, weil diese Vorbildcharakter hat. Und Mitglieder des Parlaments als Vertreter der Bürger:innen sind auch ein Spiegelbild der Gesellschaft.
Dabei macht es im Moment, nicht nur in Deutschland, den Eindruck, dass Positionen, die eigentlich als fest galten, verschoben werden. Der Umgang mit der rechtsextremen, staats- und europafeindlichen AfD macht das deutlich. Die Bestürzung darüber, dass Friedrich Merz, ohne Not und politischen Druck, gemeinsam mit der AfD einen sinnlosen Entschließungsantrag durchgeboxt hat, ist groß. Denn abgesehen davon, dass er gegen seine eigenen früheren Versprechungen gehandelt hat, hat er eine moralische Anstandslinie übertreten. Die Frage stellt sich dann, ob es so was wie Moral und Anstand in der heutigen Politik überhaupt noch gibt.
Wir haben ja erlebt, dass moralische Integrität mit Politik durchaus vereinbar ist. Dazu muss man gar nicht weit zurückschauen. Das letzte Beispiel ist wenige Wochen alt und stammt von Volker Wissing. Der trat aus der FDP aus, nachdem diese Dolchstoß-artig die Ampel-Koalition verlassen wollte. Wissing stellte seine moralische Integrität über seine Parteikarriere. Ein in der Bundesrepublik sicherlich seltener Fall.
Es ist ein oft diskutierter Punkt, ob Politiker früherer Zeiten einen anderen moralischen Kompass und ein anderes Verständnis von Demokratie hatten. Richtig ist: Die Politik in West-Deutschland wurde bis in die 80er-Jahre von jenen geprägt, die die Schreckenszeit der Nationalsozialismus und den Krieg erleben mussten. Die Angst, dass sich dies wiederholen könnte, war eine der wichtigsten Grundlagen westdeutscher Politik und wurde quer durch alle Parteien unisono geteilt. Die öffentliche und im Bundestag geführte Debatte um die Notstandsgesetze im Jahr 1968 war ein gutes Beispiel dafür. Dass das ursprüngliche Gesetz abgeschwächt wurde, ist auch dieser Debatte und (man mag es heute kaum glauben) der FDP zu verdanken, die sich an die Seite der Gewerkschaften und der Studentenbünde stellte.
Die Kriegsgeneration ist verstorben und mit ihr auch die Politiker, die West-Deutschland über fast 50 Jahre geprägt haben. Der letzte, noch lebende Politiker ist Gerhard Baum (FDP), dessen Stimme nicht nur in seiner eigenen Partei leider viel zu oft ignoriert wird. Aber mit dem Verschwinden dieser Generation der Politiker hat sich auch Deutschland verändert. Auf Helmut Kohl, der aus einem engen Netzwerk heraus regiert, folgte Gerhard Schröder. Dessen politische wie moralische Überzeugungen hat er am besten selbst zusammen gefasst, als er sagte "Zum Regieren brauche ich nur Bild, BamS und die Glotze".
Der oft als "Medienkanzler" beschriebene Schröder stellte eine Zäsur in der Politik dar. Nicht nur, weil er der erste Kanzler ohne Kriegserfahrung war, sondern auch, weil er den Populismus als integralen Teil seines politischen Wirkens betrachtete. Das hat sich in den letzten 25 Jahren durch das Internet noch weiter verstärkt. Hinzu kommt, dass Politiker oft nicht mehr aus Überzeugung in der Politik sind, sondern weil es eine Karriereentscheidung ist.
Natürlich war das selbst in den 1950er Jahren nicht anders. Der Roman "Das Treibhaus" von Wolfgang Koeppen von 1953 beschreibt das Leben eines unscheinbaren Abgeordneten in Bonn, der von seiner Partei instrumentalisiert wird und von Politikern umgeben ist, denen jedes Mittel Recht ist, um ihre Position zu festigen. Die Geschichte der Bonner Republik ist voll von solchen Ereignissen und Mustern. Ich habe aus einer gewissen Nähe die Lebensgeschichten einiger Politiker aus den hinteren Reihen des Bundestags erlebt. Deren Lebensziel bestand vor allem daraus, sich durchzumogeln, Geld zu verdienen und die wie auch immer klein geratene Position der Macht zu verteidigen. Gerne auch in einem engmaschigen Netzwerk alter "Parteifreunde" (gemeint ist die NSDAP).
Doch was große Teile dieser, der Korruption durch Macht ausgesetzte Generation, nicht bestritt, war die Feststellung, dass man mit Rechtsradikalen und Nazis keine gemeinsamen Sachen würde.
Dass sich die Zeiten nachhaltig geändert haben, ist offensichtlich. Der ehemalige Bundespräsident Walter Scheel sagt mal: "Es kann nicht die Aufgabe eines Politikers sein, die öffentliche Meinung abzuklopfen und dann das Populäre zu tun. Aufgabe des Politikers ist es, das Richtige zu tun und es populär zu machen." Da war auch damals natürlich auch nur eine relativ romantische Vorstellung von dem, was Politik ist. Aber es vermittelt einen Eindruck vom moralischen Kompass, den viele Politiker noch hatten. Weniger Populismus, mehr politische Inhalte, die langfristig ausgerichtet waren.
Was mich wieder zur Kriegsgeneration bringt. Konrad Adenauer war zwar auch ein Freund der politischen Machtsicherung mittels eines engen Netzwerks aus Parteikollegen und Wirtschaft, aber zwei Zitate bringen seinen grundsätzlichen moralischen Kompass zum Vorschein, der heute offensichtlich vielen Abgeordneten fehlt:
"Vielen fehlt das Bewusstsein unserer trostlosen Ausgangslage von 1945. Sie denken und handeln nur aus den Überlegungen des Tages. Und doch dürfen wir niemals vergessen, dass das Trümmerfeld von 1945 die Folge eines verlorenen Krieges war."
Und gerichtet an andere Politiker sagte er
"Die Weimarer Republik ist zugrunde gegangen durch mangelnde Energie, durch Feigheit, Unfähigkeit und Mittelmäßigkeit der verantwortlichen Männer." (Hier zu finden)
In der heutigen Medienwelt sieht die Sache anders aus. Abgesehen, dass das Leitmotiv scheinbar nur noch aus Likes auf Onlineplattformen formuliert wird, verfahren viele, vor allem mittelmäßige Politiker nach Machiavelli: Ein moralischer Tabubruch, ein rückgratloser Populismus, führt nur dann zu Empörung und negativen Reaktionen in der Öffentlichkeit, wenn die genutzten Methoden nicht zum Erfolg geführt haben. Wo aber selbst der Zynismus von Machiavelli einen Schlussstrich zieht, gehen viele Politiker heute noch weiter. Das eigene Scheitern wird dann dem politischen Gegner angelastet.
Donald Trump hat daraus eine "Kunst" gemacht und sein Credo "Niemals einen Fehler zugeben" ist zum Leitmotiv moderner Politik geworden. Dass Friedrich Merz die Demonstrationen vor dem Adenauer-Haus nach der gemeinsamen Abstimmung mit AfD als Missbrauch des Demonstrationsrechts bezeichnete und gleichzeitig SPD und Grüne aufrief, die Demonstranten "zu mäßigen", zeugt von einem ähnlichen Machtverständnis. Nicht der eigene strategische Fehler (Abstimmung mithilfe der AfD über eine Entschließung, die kein Gesetz werden kann) ist das Problem, sondern die Kritik daran.
Merz hätte das Problem nicht, wenn sein moralischer politischer Kompass eine klare Grenze hätte. Ich will ihm gar unterstellen, dass er keinen moralischen Kompass hat. Aber offensichtlich fehlt seinem moralischen Kompass der Anstand. Und der besagt, dass man mit Feinden der demokratischen Grundordnung keine gemeinsame Sache macht. Und wenn Anstand und Ehrlichkeit in der Politik als Schwäche gelten, dann ist die Demokratie in Gefahr.
„Ich scheide weit vom lauten Markt, wo stumpfe Horden ziehen, und wähle mir den stillen Park, den schönen Traum zu fliehen.“
Stefan George – Algabal (1892)

Neulich in der Küche gestanden und darüber nachgedacht, wann es eigentlich zum letzten Mal "normal" war. Muss am 07. November 2016 gewesen sein, also einen Tag vor der Wahl in den USA, als alle noch dachten, dass die Amerikaner ja wohl nicht so wahnsinnig geworden sind und Hillary Clinton die Wahl locker gewinnen würde. Dann kamen vier Jahre Trump. Kaum war der weg, kamen in schneller Reihenfolge Covid, die russische Invasion in der Ukraine, Gaskrise, Inflation, Wirtschaftskrise, Ampel-Chaos, AfD und was dazu noch im eigenen Leben noch so los war. Keine Zeit, um Atem zu holen, keine Zeit, zur Ruhe zu kommen und keine Zeit nach vorn zu schauen. Die letzten acht Jahre fühlten sich wie ein andauerndes Rückzuggefecht an.
Ich denke, dass ich damit nicht alleine bin. Wir leben seit rund 10 Jahren in einer permanenten Transformation. Politisch, wirtschaftlich und vor allem technologisch. Aber das ist nicht das erste Mal, dass es so etwas passiert. Im Übergang vom Biedermeier zur ersten Gründerzeit (1848–1880) ging es den meisten Leuten ähnlich. Da tauchte dann auch das erste Mal der Begriff "Rückzug ins Private" auf. Die Überforderung in der damaligen Zeit bestand aus technologischen Durchbrüchen (Eisenbahn) und politischen Umwälzungen in Europa (erste Formen der Demokratie, Zusammenbruch der Monarchie in Frankreich, Sezessionskrieg in den USA etc.) Das mag aus heutiger Sicht eher gemütlich wirken, war damals aber für die Menschen ebenso schwierig zu bewältigen, wie die heutigen Veränderungen. Damals wie heute haben sie den Nährboden für extremistische Bewegungen gelegt, die dann später die Weltgeschichte veränderten.
Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen, die zwischen 1878 und 1914 stattfanden, sind in diversen Büchern aufgearbeitet. Aber besonders nachvollziehbar sind sicher die Beschreibungen von Stefan Zweig (geboren 1881) in seiner Autobiografie "Die Welt von Gestern", der aus seiner Sicht die Umwälzungen zwischen 1890 und 1930 beschrieben hat. In den gerade mal 40 Jahren wurde Europa politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich auf den Kopf gestellt. Das klingt aus heutiger Sicht weit weg, aber diese 40 Jahre entsprechen dem Zeitraum von 1984 bis 2024. Und wir erleben seit ungefähr Mitte der 90er Jahre eine ähnliche Revolution wie in der Zeit seit 1878.
Seit die Technik zu einem Bestandteil des täglichen Lebens geworden ist, stößt die Technisierung unserer Welt auf Kritik. Vor allem seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, als Wissenschaft und industrielle Nutzung erstmals eine untrennbare Einheit bildeten, ist die Debatte über den Einfluss der Technik zu einem festen Bestandteil gesellschaftlicher Auseinandersetzungen geworden. Interessanterweise war es im 19. Jahrhundert schon so, dass die gesellschaftlichen Transformationen von konservativen Kräften eher abgelehnt wurden, während die frühe Sozialdemokratie die Errungenschaften der Wissenschaft und Technik unterstützte. Deren Thema waren eher die Produktionsverhältnisse und die Verteilung der Gewinne der Unternehmen an die Arbeiter.
Das rasante Wachstum der Städte und die Veränderungen der Arbeits- und Lebensbedingungen führten bei vielen Menschen zu einem Gefühl der Entfremdung. In Reaktion darauf suchten viele Rückzugsorte in der Familie und im häuslichen Leben. Das Bürgertum propagierte ein Ideal von Häuslichkeit, das sich in einer klaren Trennung von privater und öffentlicher Sphäre ausdrückte. Das Heim wurde zum Ort der Ruhe und des moralischen Rückhalts.
Ich erlebe gerade etwas Ähnliches. Der Wunsch, sich von all dem, was da draußen und in der Welt vor sich geht, abzukapseln. Ignoranz als letztes Mittel der Verteidigung. Die Frage ist aber auch, ob man sich das erlauben kann. Ob es nicht gerade jetzt die Zeit ist, in der man sich vom Sofa aufrafft, um sich lautstark den Verteidigern der Demokratie anzuschließen. Denn die brauchen jede Unterstützung, die sie bekommen können.
Die mittlerweile nicht mal versteckt agierenden Oligarchen, die gerne eine Polykratie unter dem Deckmantel einer ausgehöhlten Demokratie etablieren wollen, scheinen gegenwärtig die Oberhand zu haben. Eine Mischung aus Müdigkeit und Enttäuschung innerhalb der Zivilgesellschaft wird gerade nachhaltig ausgenutzt. Und diese Verquickung von Müdigkeit und politischer Enttäuschung ist es wohl, die es den rechten Kräften so einfach macht. Die scheinbare Mühelosigkeit, mit der ultrarechte Kräfte im Moment voranschreiten, ist erschreckend und betäubend. Wie kann man sich einer rasant wachsenden Menge von Menschen entgegenstellen? Was bleibt da nur, als der Rückzug ins Private?
So erstrebenswert es erscheinen mag, es wird nichts verändern. Bekannterweise war es gerade das Schweigen der Mittelklasse, das in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts, das dem Faschismus ermöglicht hat, störungsfrei seine Macht zu sichern. Aber die Vergleiche zu den 30er-Jahren hinken auch ein wenig. Denn es ist eben nicht so, dass der Faschismus wie in der damaligen Zeit als neue, frische Bewegung auf eine unvorbereitete Bevölkerung traf. Die Konsequenzen daraus sind einer Mehrheit der Menschen in der EU bekannt. Und anders als 1933 haben die meisten EU-Bürger viele Jahrzehnte einer Demokratie hinter sich.
Dennoch darf man nicht in Lethargie und ins Private fallen. Die Demokratie wird nur dann überleben, wenn man sich den Kräften, die sich schwächen wollen, entgegenstellt. Der Rückzug ins Private kann dann erfolgen, wenn die Kräfte, die die Demokratie beseitigen wollen, zerstört sind.
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