Samstag, 15. Februar 2025

„Die vornehmste Grundlage eines glückseligen Lebens aber ist dies, dass man weder Unrecht tut noch von anderen Unrecht erleidet. Hiervon ist nun das Erstere nicht so gar schwer zu erreichen, wohl aber so viel Macht zu erwerben, dass man sich gegen jedes Unrecht zu sichern vermag, und es ist unmöglich auf eine andere Weise vollkommen zu derselben zu gelangen als dadurch, dass man selber vollkommen tüchtig dasteht. Und ebenso ergeht es auch einem Staate, ist er tüchtig, so wird ihm ein friedliches Leben zuteil, ist er es nicht, so bedrängt ihn Fehde von innen und außen". Platon

Ich bin ja in den 70er und 80er-Jahren aufgewachsen. Also mit deutscher Trennung, Kaltem Krieg und allem, was so dazu gehört. Wobei ich gerade denke: ach ja, das gehört ja nur zu meinem Leben, nicht mehr zum Leben derjenigen, die ab Mitte der 80er-Jahre geboren wurden. Diese Generationen sind dankenswerterweise nur in Friedenszeiten aufgewachsen. Zumindest, was die großen, weltweiten Konflikte angeht. Aber ich erinnere mich sehr gut an die Zeit des Kalten Kriegs zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt.

Die Auseinandersetzung beider Blöcke war ein Teil des Alltags. Die Teilung Deutschlands und der eiserne Vorhang waren ein tägliches Thema in den Nachrichten. Sendungen wie "Kennzeichen D" oder das legendäre, propagandistische "ZDF-Magazin" mit Richard Löwenthal (samt des Pendants "Der schwarze Kanal" in der DDR) erinnerten einen im Wochenrhythmus daran, was los war. Es gab aber auch viele Dinge außerhalb der Medien, die mich daran erinnerten, dass die Zeiten angespannt waren. Was daran lag, dass ich in Bonn aufgewachsen bin, wo sich auf wenigen Quadratkilometern der ganze Konflikt politisch konzentrierte.

Hat mich das damals angestrengt? Habe ich permanent darüber nachgedacht? Sicher nicht. Dafür gab es zwei Gründe. Zum einen war ich jung. Ein Teenager. Da hat man andere Sorgen und an das Ende der Welt denkt man sowieso nicht. Zum anderen war der Kalte Krieg Normalität im Alltag. Es war ein drolliger Nicht-Kriegszustand. Hier und da wurden Spione verhaftet, Botschaftspersonal abgeschoben und einmal im Jahr stellten irgendwelche Wissenschaftler die Doomsday-Clock um eine Minute näher an 12 Uhr. Klar, das Potenzial von über 60.000 Nuklearwaffen in den Arsenalen der beiden Blöcke reichte, um Angst auszulösen.

Aber die meisten Menschen, die ich kannte, hatten keine Angst. Das war eher Fatalismus. Es war klar, dass Bonn im Falle eines Konflikts ein Ziel der sowjetischen Raketen sein würde. Die permanente Bedrohung führte dazu, dass alle nur mit den Schultern zuckten. Tatsächlich war die Angst vor einem nichtnuklearen Krieg viel größer. "Wenn die Russen kommen...." war ein Schreckenssatz, denn niemand wollte unter russischer Herrschaft in einer Art DDR2 leben. Aber in einem Atompilz sterben? Was soll man schon machen?

Kalter Krieg - aber von drei Seiten

Seit 2022 redeten wieder viele Menschen über einen Kalten Krieg 2.0. Und dass es wieder zwei Blöcke sind, die sich gegenüberstehen. Erneut die NATO, dieses Mal gegen Russland und China. Und ich kann da nur zustimmen, wenn es um die Frage geht, dass wir einen erneuten Kulturkampf erleben. Statt Kapitalismus vs. Kommunismus ist es dieses Mal Neokapitalismus vs. kapitalistischen Autokratismus. Ein bisschen Pest vs. Cholera. Aber ich lebe am Ende dann doch lieber in einer Demokratie, in der es immerhin die Chance gibt, dass man sie und das Wirtschaftssystem verändert, als in einer Autokratie. Natürlich geht es auf internationaler Bühne um mehr. Es geht um Imperialismus, hegemoniale Strukturen und schlichtweg Macht. Aber am Ende ist es ein politischer Kulturkampf, in dem es nicht um die Frage nach dem richtigen Wirtschaftssystem geht (da sind sich alle einig), sondern um die Frage, ob die Demokratie oder die Autokratie das bessere Modell ist.

Die Zuspitzung und die Bildung der ideologischen Blöcke kommen für die meisten überraschend. Russland ist zu schwach, hat man immer gedacht. Und China zu sehr abhängig von den Exporten. "Wandel durch Handel" war die letzten 30 Jahre der Zauberspruch, mit dem sich der demokratisch gebende Kapitalismus durch die Globalisierung gefräst hat. Aber seit mindestens 15 Jahren hat sich eine andere Lage ergeben und wir erleben jetzt, dass sich wieder ein Kampf der Systeme entwickelt.

Die für manche überraschende Entwicklung der letzten Jahre ist aber, dass die USA sich ebenfalls von Europa abwenden. Die sich mit einer Mischung aus Polykratie, Faschismus und Autokratie zugewandte US-Regierung hat die westliche Weltordnung, die seit 80 Jahren Bestand hatte, aufgekündigt. Neu ist das allerdings nicht. Schon die Biden-Regierung hatte den Fokus der USA von Europa in Richtung Indo-Pazifik verschoben.

Unterbrochen würde das politisch nur durch den Angriff Russlands auf die USA. Zwar hatte die Biden-Regierung diesen Angriff auch als Gefahr für die eigenen Sicherheitsinteressen betrachtet, aber die nur sehr zögerliche Aufrüstung der ukrainischen Armee mit modernen Flugzeugen, Panzern und die Weigerung, HIMARS für Angriffe auf russisches Territorium zu nutzen, waren nicht hilfreich. Die Armee der Ukraine war so in die Position der Defensive gedrängt. Und aus Europa kam auch nur zögerlich Unterstützung. 

Faschismus unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit

Was mich aber in der Tat überrascht, ist der Fakt, dass die USA sich nun auch tiefgreifend politisch in die EU einmischen. Die gestrige Rede des Vizepräsidenten Vance bei der Münchner Sicherheitskonferenz kam einem Eklat nahe. Ausgerechnet den Europäern vorzuwerfen, dass sie die Meinungsfreiheit unterdrücken und zurück zu demokratischen Werten finden sollten, war eine diplomatische Unverschämtheit. Immerhin weiß man aber jetzt, wo man steht.

Die EU ist, zumindest für die nächsten vier Jahre, eingezwängt zwischen den libertären, neo-kapitalistischen und autoritären USA, der Putin-Diktatur und dem autoritären, hegemonialen Staatskapitalismus in China. Als einziger großer Block im Westen scheint die EU das letzte Bollwerk der Demokratie in dieser Hemisphäre zu sein. Oder etwas figurativer ausgedrückt: Die EU ist zwischen zwei Blöcken eingeklemmt, die ein Interesse daran haben, das gesellschaftliche demokratische Fundament Europas zu zerstören.

Ich bin davon überzeugt, dass wir am Anfang eines Systemkampfs stehen. Und dass man nur mit einem eindeutigen Lagerdenken dazu in der Lage sein wird, den Systemkampf politisch zu überstehen. Ähnlich wie im Kalten Krieg: "Wenn Du auf unserer Seite bist, bist Du ein Freund. Wenn nicht, dann schließen wir Dich aus".

Was mich manchmal erstaunt, ist die Tatsache, dass das offenbar nur wenige so sehen. Velina Tchakarova, bis Anfang 2023 Direktorin des Österreichischen Instituts für Europa- und Sicherheitspolitik, hat den etwas holprigen Begriff "DragonBear" geprägt. Damit meint sie die politische und militärische Allianz zwischen China und Russland. Während viele, die Partnerschaft zwischen beiden Ländern als eine Art Not-Bündnis für Russland sehen, versteht sie darunter mehr. Es geht um die Aufteilung von Hemisphären. China hätte gerne Asien und den Pazifik, Russland gerne Europa. Kontrolliert man diese beiden Sphären, sind die USA nur noch eine Randerscheinung. Das ist, vereinfacht gesagt, der Block, der Autokraten, der sich gebildet hat, und an den sich andere autokratische Staaten (Iran) anlehnen.

Das bedeutet auch, dass wir zusätzlich zum fundamentalen, geopolitischen Wandel auch einen Diskurswandel erleben. Menschen, die Autokratien bevorzugen oder Nationen, die zusätzlich auch noch religiös geprägt sind, teilen weder die gleichen Diskussionsgrundlagen noch das ethisch/moralische Wertebild, dass die zumindest die letzten 30 Jahre vorherrschend war (ob das Bild richtig und/oder gut war, lasse ich mal offen).

Die Wahl von Trump, der aus seinen autokratischen Ambitionen kein Geheimnis macht, ist ein Zeichen. Ein anderes ist, dass die Tech-Bros um Musk, Thiel und Andresen (plus weitere Neoliberale) ebenfalls eine Art Autokratismus etablieren wollen, allerdings eher als Form einer feudalen Oligarchie. Sie glauben an einen gefährlichen Mix aus genetischer Überlegenheit, autokratischen Machtstrukturen und sind fest überzeugt, dass nur sie die Menschheit retten können. Wie das Experiment in den USA ausgeht, ist offen, aber wie oben beschrieben spüren wir hier die Auswirkungen.

Das bedeutet aber auch, dass man in Deutschland, zumindest im Moment, keine Kompromisse zwischen den Lagern finden wird. Und schon gar nicht, wenn sich Russland und China in einer Position der Stärke vermuten. Die Angriffe auf die demokratischen Systeme, zum Beispiel durch die AfD, wo führende Mitglieder autokratische Propaganda betreiben, oder durch die Partei BSW, die gleich ganz offen russische Argumente teilt, sind ernst. Denn sie spalten die Gesellschaft, statt Einigkeit zu schaffen.

Handungsunfähigkeit galore

Doch was mich allerdings zutiefst beunruhigt: Große Teile der Politik und der Wirtschaft haben noch nicht verstanden, dass es eine fundamentale Verschiebung gegeben hat. Man hat den Eindruck, dass viele den Bruch in der Geschichte nicht ernst nehmen und immer noch glauben, dass es nach zwei, drei Jahren wieder eine Rückkehr zum System geben wird, das bis 2019 vorherrschte. Doch das kann man zügig widerlegen.

Das deutsche Wirtschaftsmodell der letzten 20 Jahre basierte auf folgenden Säulen:

  • Billiges Gas aus Russland
  • Billige Importe wichtiger Grundstoffe (Lithium, Magnesium etc.) aus China
  • Ständig wachsende Exporte und Verkäufe in China
  • Niedrige und/oder stagnierende Löhne im Inland
  • Verlagerung der inländischen Produktion ins Ausland (China), um mehr Profite zu machen
  • Verschiebung sämtlicher militärischer Verantwortung in die USA 

Das ist alles vorbei und wird so schnell auch nicht wiederkommen. Während man aber das Gas und die günstigen Metalle irgendwie ersetzen kann, wird das bei den Exporten und Verkäufen in China nicht der Fall sein. Die Abhängigkeit vor allem der deutschen Industrie von China ist derartig groß, dass man sich fragt, wie blind Manager in den letzten zehn Jahren eigentlich sein konnten.

Immerhin hat die KP in China nie einen Hehl daraus gemacht, dass man ein autokratisch geprägtes Land ist und das auch bleiben wird. Die Ableitung internationaler Manager war aber, dass die KP im Grunde einen westlichen Kapitalismus anstrebt, der von ihr reguliert wird. Und dass alle im Grunde dasselbe wollen: Geld. Dabei wurde übersehen, dass Geld nur das Vehikel für hegemoniale Bestrebungen ist.

Und es ist auch nicht so, als würden Russland und China ein Geheimnis daraus machen.

Die Pläne liegen offen

Das ellenlange Abschlusskommunique (Link zu China Daily) des letzten Staatsbesuches Putin in China listet glasklar auf, was man vorhat: In der Erklärung heißt es, es sei ein „objektiver Faktor“, dass „der Status und die Stärke aufstrebender wichtiger Länder und Regionen im ‚Globalen Süden‘ kontinuierlich zunehmen“ und dass sich der Trend zur Multipolarität der Welt beschleunigt.

Weiter heißt es, dass China und Russland „das Potenzial der bilateralen Beziehungen voll ausschöpfen werden“, um „die Verwirklichung einer gleichberechtigten und geordneten multipolaren Welt und die Demokratisierung der internationalen Beziehungen zu fördern und Kräfte für den Aufbau einer gerechten und vernünftigen multipolaren Welt zu sammeln“.

Diese Erklärung ist absolut außergewöhnlich und wird die Welt wahrscheinlich für die nächsten Jahrzehnte prägen. Russland und China haben ausdrücklich erklärt, dass sie zusammenarbeiten, um eine neue „gleichberechtigte und geordnete multipolare Welt und die Demokratisierung der internationalen Beziehungen“ zu schaffen und um den hegemonialen Bestrebungen der USA ein Ende zu setzen. Schluss mit der Verstellung, es passiert wirklich.

Ich weiß nicht, wie man noch deutlicher ausdrücken kann, was man plant und umsetzen will. Das gilt auch für das "Project 2025" aus den USA, das detailliert präsentiert, wie sich die momentane Administration die Zukunft vorstellt. Aber das interessiert offenbar große Teile der Wirtschaft in Deutschland nicht. Was verständlich ist, wenn man weiß, dass zum Beispiel die deutsche Autoindustrie derartig von China abhängig ist, dass sie sofort Bankrott sein wird, wenn auch nur winzige Bereiche der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zum Erliegen kommen.

Wenn die EU und vor allem Deutschland weiter so blauäugig die inneren und äußeren Feinde ignorieren, wenn man weiterhin die Abhängigkeiten von offensichtlich feindlich eingestellten Staaten erhöht, dann wird der nächste Kalte Krieg nicht zu gewinnen sein. Wenn man weiter versucht, Autokraten oder Parteien, die populistische, autokratische Weltbilder propagieren, "zu verstehen" und mit dem eigenen Weltbild zu überzeugen, werden die Demokratien scheitern. Es gibt keine Diskussionsgrundlage, wenn Faschisten und Autokraten genau diese Grundlagen ablehnen und abschaffen wollen.

Handeln - jetzt!

Im Kalten Krieg der 70er und 80er Jahre wäre es undenkbar gewesen, dass man, abgesehen mit den Verbündeten, große Abhängigkeiten riskiert. Die Resilienz eines Staates bestand vor allem daraus, dass man

a) die eigene Infrastruktur kontrollierte
b) die Produktion wichtiger Güter im eigenen Land sicher stellte
c) die Produktion kriegswichtiger Güter doppelt absicherte und Reserven vorhielt.
d) die eigene defensive Wehrhaftigkeit auch innerhalb von Europa in die eigenen Hände nimmt.

Das schaffte nicht nurUnabhängigkeit, sondern auch das Selbstbewusstsein, einem eventuellen Kriegsfall nicht unvorbereitet gegenüberzustehen. Ob mit oder ohne den USA, die EU muss wirtschaftlich unabhängig und wehrhaft sein. Es schafft auch das Selbstbewusstsein, welches hinter dem alt-lateinischen Spruch "Si vis pacem para bellum" steckt. Wenn du Frieden willst, bereite Krieg vor.

Das Gleichgewicht der Kräfte der 80er-Jahre, das auf diesem Sinnspruch auf beiden Seiten herrschte, ist im Moment nicht vorhanden. Sonst hätte Russland sich nicht getraut, die Ukraine anzugreifen. Sonst würde China keine seemilitärische Übung veranstalten, die eine Besetzung Taiwans nachstellt und sonst würde der Iran nicht weiter mit seinen Proxy-Armeen den Frieden im Nahen Osten gefährden und Israel bedrohen.

Ohne das Gleichgewicht der Kräfte wird das alles weiterhin passieren und wenn die EU, zur Not auch ohne die Hilfe der USA nicht in der Lage ist, dieses Gleichgewicht in Europa herzustellen, wird der neue Kalte Krieg für Europa schnell ein Ende finden. Am Ende steht dann ein halb durch Russland besetzter und kontrollierter Kontinent, der von der hegemonialen Wirtschaftspolitik Chinas vollkommen abhängig ist.

Und der Unterschied zum Kalten Krieg in den 1980er Jahren ist, dass ich dieses Mal tatsächlich Angst habe. Nicht vor einem Krieg (noch nicht), sondern davor, dass uns die Demokratie durch Hände gleitet, weil mittelmäßige, ängstliche Politiker in der EU nicht in der Lage sind, die richtigen Entscheidungen zu treffen.




Sonntag, 2. Februar 2025

"Denkst Du, man kann regieren und dabei moralisch unschuldig bleiben?" (Sartre, Die schmutzigen Hände)

Wir reden gerade viel über Anstand und Moral in der Politik. Und darüber, ob es so was in der Politik überhaupt noch gibt. Wobei die Frage nach der Moral ja dehnbar ist. Nicht jeder teilt alle moralischen Positionen einer anderen Person. Das mag religiöse Gründe haben, das mag sich in politischen Überzeugungen äußern. Die Frage nach der "richtigen Moral" beschäftigt Philosophen seit Jahrtausenden. Eine Antwort darauf gibt es bis heute nicht und sie wird vermutlich auch nicht gefunden werden, weil Moral ja auch etwas ist, was durch den Zeitgeist bestimmt werden kann. Gleiches gilt für die Frage nach dem Anstand.

Aber man kann sich zumindest in der Zeit, in der man lebt, auf einen moralischen Kompass einigen. Und die Geschichte der Menschheit hat auch gezeigt, dass bestimmte moralische Positionen sich immer wiederholen. Grundsätzliche moralische Positionen sind von vielen beschrieben worden, zuletzt auch von Hannah Arendt. Und besonders wichtig sind Grenzen des Anstands und der Moral (also was man nicht machen sollte) in der Politik, weil diese Vorbildcharakter hat. Und Mitglieder des Parlaments als Vertreter der Bürger:innen sind auch ein Spiegelbild der Gesellschaft.

Dabei macht es im Moment, nicht nur in Deutschland, den Eindruck, dass Positionen, die eigentlich als fest galten, verschoben werden. Der Umgang mit der rechtsextremen, staats- und europafeindlichen AfD macht das deutlich. Die Bestürzung darüber, dass Friedrich Merz, ohne Not und politischen Druck, gemeinsam mit der AfD einen sinnlosen Entschließungsantrag durchgeboxt hat, ist groß. Denn abgesehen davon, dass er gegen seine eigenen früheren Versprechungen gehandelt hat, hat er eine moralische Anstandslinie übertreten. Die Frage stellt sich dann, ob es so was wie Moral und Anstand in der heutigen Politik überhaupt noch gibt.

Wir haben ja erlebt, dass moralische Integrität mit Politik durchaus vereinbar ist. Dazu muss man gar nicht weit zurückschauen. Das letzte Beispiel ist wenige Wochen alt und stammt von Volker Wissing. Der trat aus der FDP aus, nachdem diese Dolchstoß-artig die Ampel-Koalition verlassen wollte. Wissing stellte seine moralische Integrität über seine Parteikarriere. Ein in der Bundesrepublik sicherlich seltener Fall.

Es ist ein oft diskutierter Punkt, ob Politiker früherer Zeiten einen anderen moralischen Kompass und ein anderes Verständnis von Demokratie hatten. Richtig ist: Die Politik in West-Deutschland wurde bis in die 80er-Jahre von jenen geprägt, die die Schreckenszeit der Nationalsozialismus und den Krieg erleben mussten. Die Angst, dass sich dies wiederholen könnte, war eine der wichtigsten Grundlagen westdeutscher Politik und wurde quer durch alle Parteien unisono geteilt. Die öffentliche und im Bundestag geführte Debatte um die Notstandsgesetze im Jahr 1968 war ein gutes Beispiel dafür. Dass das ursprüngliche Gesetz abgeschwächt wurde, ist auch dieser Debatte und (man mag es heute kaum glauben) der FDP zu verdanken, die sich an die Seite der Gewerkschaften und der Studentenbünde stellte.

Die Kriegsgeneration ist verstorben und mit ihr auch die Politiker, die West-Deutschland über fast 50 Jahre geprägt haben. Der letzte, noch lebende Politiker ist Gerhard Baum (FDP), dessen Stimme nicht nur in seiner eigenen Partei leider viel zu oft ignoriert wird. Aber mit dem Verschwinden dieser Generation der Politiker hat sich auch Deutschland verändert. Auf Helmut Kohl, der aus einem engen Netzwerk heraus regiert, folgte Gerhard Schröder. Dessen politische wie moralische Überzeugungen hat er am besten selbst zusammen gefasst, als er sagte "Zum Regieren brauche ich nur Bild, BamS und die Glotze".

Der oft als "Medienkanzler" beschriebene Schröder stellte eine Zäsur in der Politik dar. Nicht nur, weil er der erste Kanzler ohne Kriegserfahrung war, sondern auch, weil er den Populismus als integralen Teil seines politischen Wirkens betrachtete. Das hat sich in den letzten 25 Jahren durch das Internet noch weiter verstärkt. Hinzu kommt, dass Politiker oft nicht mehr aus Überzeugung in der Politik sind, sondern weil es eine Karriereentscheidung ist.

Natürlich war das selbst in den 1950er Jahren nicht anders. Der Roman "Das Treibhaus" von Wolfgang Koeppen von 1953 beschreibt das Leben eines unscheinbaren Abgeordneten in Bonn, der von seiner Partei instrumentalisiert wird und von Politikern umgeben ist, denen jedes Mittel Recht ist, um ihre Position zu festigen. Die Geschichte der Bonner Republik ist voll von solchen Ereignissen und Mustern. Ich habe aus einer gewissen Nähe die Lebensgeschichten einiger Politiker aus den hinteren Reihen des Bundestags erlebt. Deren Lebensziel bestand vor allem daraus, sich durchzumogeln, Geld zu verdienen und die wie auch immer klein geratene Position der Macht zu verteidigen. Gerne auch in einem engmaschigen Netzwerk alter "Parteifreunde" (gemeint ist die NSDAP).

Doch was große Teile dieser, der Korruption durch Macht ausgesetzte Generation, nicht bestritt, war die Feststellung, dass man mit Rechtsradikalen und Nazis keine gemeinsamen Sachen würde.

Dass sich die Zeiten nachhaltig geändert haben, ist offensichtlich. Der ehemalige Bundespräsident Walter Scheel sagt mal: "Es kann nicht die Aufgabe eines Politikers sein, die öffentliche Meinung abzuklopfen und dann das Populäre zu tun. Aufgabe des Politikers ist es, das Richtige zu tun und es populär zu machen." Da war auch damals natürlich auch nur eine relativ romantische Vorstellung von dem, was Politik ist. Aber es vermittelt einen Eindruck vom moralischen Kompass, den viele Politiker noch hatten. Weniger Populismus, mehr politische Inhalte, die langfristig ausgerichtet waren.

Was mich wieder zur Kriegsgeneration bringt. Konrad Adenauer war zwar auch ein Freund der politischen Machtsicherung mittels eines engen Netzwerks aus Parteikollegen und Wirtschaft, aber zwei Zitate bringen seinen grundsätzlichen moralischen Kompass zum Vorschein, der heute offensichtlich vielen Abgeordneten fehlt:

"Vielen fehlt das Bewusstsein unserer trostlosen Ausgangslage von 1945. Sie denken und handeln nur aus den Überlegungen des Tages. Und doch dürfen wir niemals vergessen, dass das Trümmerfeld von 1945 die Folge eines verlorenen Krieges war."

Und gerichtet an andere Politiker sagte er

"Die Weimarer Republik ist zugrunde gegangen durch mangelnde Energie, durch Feigheit, Unfähigkeit und Mittelmäßigkeit der verantwortlichen Männer." (Hier zu finden)

In der heutigen Medienwelt sieht die Sache anders aus. Abgesehen, dass das Leitmotiv scheinbar nur noch aus Likes auf Onlineplattformen formuliert wird, verfahren viele, vor allem mittelmäßige Politiker nach Machiavelli: Ein moralischer Tabubruch, ein rückgratloser Populismus, führt nur dann zu Empörung und negativen Reaktionen in der Öffentlichkeit, wenn die genutzten Methoden nicht zum Erfolg geführt haben. Wo aber selbst der Zynismus von Machiavelli einen Schlussstrich zieht, gehen viele Politiker heute noch weiter. Das eigene Scheitern wird dann dem politischen Gegner angelastet.

Donald Trump hat daraus eine "Kunst" gemacht und sein Credo "Niemals einen Fehler zugeben" ist zum Leitmotiv moderner Politik geworden. Dass Friedrich Merz die Demonstrationen vor dem Adenauer-Haus nach der gemeinsamen Abstimmung mit AfD als Missbrauch des Demonstrationsrechts bezeichnete und gleichzeitig SPD und Grüne aufrief, die Demonstranten "zu mäßigen", zeugt von einem ähnlichen Machtverständnis. Nicht der eigene strategische Fehler (Abstimmung mithilfe der AfD über eine Entschließung, die kein Gesetz werden kann) ist das Problem, sondern die Kritik daran.

Merz hätte das Problem nicht, wenn sein moralischer politischer Kompass eine klare Grenze hätte. Ich will ihm gar unterstellen, dass er keinen moralischen Kompass hat. Aber offensichtlich fehlt seinem moralischen Kompass der Anstand. Und der besagt, dass man mit Feinden der demokratischen Grundordnung keine gemeinsame Sache macht. Und wenn Anstand und Ehrlichkeit in der Politik als Schwäche gelten, dann ist die Demokratie in Gefahr.




Dienstag, 21. Januar 2025

„Ich scheide weit vom lauten Markt, wo stumpfe Horden ziehen, und wähle mir den stillen Park, den schönen Traum zu fliehen.“
Stefan George – Algabal (1892)

Neulich in der Küche gestanden und darüber nachgedacht, wann es eigentlich zum letzten Mal "normal" war. Muss am 07. November 2016 gewesen sein, also einen Tag vor der Wahl in den USA, als alle noch dachten, dass die Amerikaner ja wohl nicht so wahnsinnig geworden sind und Hillary Clinton die Wahl locker gewinnen würde. Dann kamen vier Jahre Trump. Kaum war der weg, kamen in schneller Reihenfolge Covid, die russische Invasion in der Ukraine, Gaskrise, Inflation, Wirtschaftskrise, Ampel-Chaos, AfD und was dazu noch im eigenen Leben noch so los war. Keine Zeit, um Atem zu holen, keine Zeit, zur Ruhe zu kommen und keine Zeit nach vorn zu schauen. Die letzten acht Jahre fühlten sich wie ein andauerndes Rückzuggefecht an.

Ich denke, dass ich damit nicht alleine bin. Wir leben seit rund 10 Jahren in einer permanenten Transformation. Politisch, wirtschaftlich und vor allem technologisch. Aber das ist nicht das erste Mal, dass es so etwas passiert. Im Übergang vom Biedermeier zur ersten Gründerzeit (1848–1880) ging es den meisten Leuten ähnlich. Da tauchte dann auch das erste Mal der Begriff "Rückzug ins Private" auf. Die Überforderung in der damaligen Zeit bestand aus technologischen Durchbrüchen (Eisenbahn) und politischen Umwälzungen in Europa (erste Formen der Demokratie, Zusammenbruch der Monarchie in Frankreich, Sezessionskrieg in den USA etc.) Das mag aus heutiger Sicht eher gemütlich wirken, war damals aber für die Menschen ebenso schwierig zu bewältigen, wie die heutigen Veränderungen. Damals wie heute haben sie den Nährboden für extremistische Bewegungen gelegt, die dann später die Weltgeschichte veränderten. 

Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen, die zwischen 1878 und 1914 stattfanden, sind in diversen Büchern aufgearbeitet. Aber besonders nachvollziehbar sind sicher die Beschreibungen von Stefan Zweig (geboren 1881) in seiner Autobiografie "Die Welt von Gestern", der aus seiner Sicht die Umwälzungen zwischen 1890 und 1930 beschrieben hat. In den gerade mal 40 Jahren wurde Europa politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich auf den Kopf gestellt. Das klingt aus heutiger Sicht weit weg, aber diese 40 Jahre entsprechen dem Zeitraum von 1984 bis 2024. Und wir erleben seit ungefähr Mitte der 90er Jahre eine ähnliche Revolution wie in der Zeit seit 1878.

Seit die Technik zu einem Bestandteil des täglichen Lebens geworden ist, stößt die Technisierung unserer Welt auf Kritik. Vor allem seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, als Wissenschaft und industrielle Nutzung erstmals eine untrennbare Einheit bildeten, ist die Debatte über den Einfluss der Technik zu einem festen Bestandteil gesellschaftlicher Auseinandersetzungen geworden. Interessanterweise war es im 19. Jahrhundert schon so, dass die gesellschaftlichen Transformationen von konservativen Kräften eher abgelehnt wurden, während die frühe Sozialdemokratie die Errungenschaften der Wissenschaft und Technik unterstützte. Deren Thema waren eher die Produktionsverhältnisse und die Verteilung der Gewinne der Unternehmen an die Arbeiter.

Das rasante Wachstum der Städte und die Veränderungen der Arbeits- und Lebensbedingungen führten bei vielen Menschen zu einem Gefühl der Entfremdung. In Reaktion darauf suchten viele Rückzugsorte in der Familie und im häuslichen Leben. Das Bürgertum propagierte ein Ideal von Häuslichkeit, das sich in einer klaren Trennung von privater und öffentlicher Sphäre ausdrückte. Das Heim wurde zum Ort der Ruhe und des moralischen Rückhalts. Ich erlebe gerade etwas Ähnliches. Der Wunsch, sich von all dem, was da draußen und in der Welt vor sich geht, abzukapseln. Ignoranz als letztes Mittel der Verteidigung. Die Frage ist aber auch, ob man sich das erlauben kann. Ob es nicht gerade jetzt die Zeit ist, in der man sich vom Sofa aufrafft, um sich lautstark den Verteidigern der Demokratie anzuschließen. Denn die brauchen jede Unterstützung, die sie bekommen können.

Die mittlerweile nicht mal versteckt agierenden Oligarchen, die gerne eine Polykratie unter dem Deckmantel einer ausgehöhlten Demokratie etablieren wollen, scheinen gegenwärtig die Oberhand zu haben. Eine Mischung aus Müdigkeit und Enttäuschung innerhalb der Zivilgesellschaft wird gerade nachhaltig ausgenutzt. Und diese Verquickung von Müdigkeit und politischer Enttäuschung ist es wohl, die es den rechten Kräften so einfach macht. Die scheinbare Mühelosigkeit, mit der ultrarechte Kräfte im Moment voranschreiten, ist erschreckend und betäubend. Wie kann man sich einer rasant wachsenden Menge von Menschen entgegenstellen? Was bleibt da nur, als der Rückzug ins Private?

So erstrebenswert es erscheinen mag, es wird nichts verändern. Bekannterweise war es gerade das Schweigen der Mittelklasse, das in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts, das dem Faschismus ermöglicht hat, störungsfrei seine Macht zu sichern. Aber die Vergleiche zu den 30er-Jahren hinken auch ein wenig. Denn es ist eben nicht so, dass der Faschismus wie in der damaligen Zeit als neue, frische Bewegung auf eine unvorbereitete Bevölkerung traf. Die Konsequenzen daraus sind einer Mehrheit der Menschen in der EU bekannt. Und anders als 1933 haben die meisten EU-Bürger viele Jahrzehnte einer Demokratie hinter sich. 

Dennoch darf man nicht in Lethargie und ins Private fallen. Die Demokratie wird nur dann überleben, wenn man sich den Kräften, die sich schwächen wollen, entgegenstellt. Der Rückzug ins Private kann dann erfolgen, wenn die Kräfte, die die Demokratie beseitigen wollen, zerstört sind.




Freitag, 17. Januar 2025

"Toleranz, auch Duldsamkeit, bezeichnet als philosophischer und sozialethischer Begriff ein Gewährenlassen und Geltenlassen anderer oder fremder Überzeugungen, Handlungsweisen und Sitten. Umgangssprachlich meint man damit häufig auch die Anerkennung einer Gleichberechtigung, die aber über den eigentlichen Begriff („Duldung“) hinausgeht."

Es gibt verschiedene Ebenen der Toleranz. Jene, die man selbst ausüben kann und jene, die von oder in einer Gruppe, Nation oder Religion ausübt. Während man über die grundsätzliche Bedeutung von Toleranz sicher nicht streiten kann und vor allem Katzen, oder generell Tierbesitzer in Toleranz ziemlich geübt sind, ist das bei größeren Gruppen schon etwas anders. Toleranz ist vor allem auch Empathie. Ich mag vielleicht nicht, was andere denken oder glauben, aber ich respektiere es. Elias Cannetti schrieb dazu mal:

"Die Empathie vollbringt das, was sich in der Masse nur als vorübergehende Erlösung und illusorisches Glück einstellt: Überwinden der Trennwände, Selbstentgrenzung und Selbstlosigkeit. Sie ist das rettende Gegenbild zur einverleibenden Macht."

Mit einverleibender Macht ist auch die Intoleranz gemeint und über den Zwiespalt zwischen Toleranz und Intoleranz zum einen und dem Unterschied von beiden Dingen auf der persönlichen und der staatlichen Ebene, habe ich in den vergangenen Wochen viel nachgedacht.

Dass die Welt sich in den vergangenen 30 Jahren mächtig verändert hat, dürfte mittlerweile jedem aufgefallen sein. Neue Konflikte sind aufgebrochen, alte Konflikte explodieren in kaum geahnter Brutalität, neue Weltmächte marschieren auf die Weltbühne und die Wirtschaft ist einer enormen Schieflage. Während man zu Hause sitzt und erschrocken auf die Gasrechnung starrt, verkomplizieren sich die Probleme. Und der gute Wille, die Probleme zur Zufriedenheit möglichst aller zu lösen, der schwindet wie das Eis in der Antarktis. Das alles führt vor allem dazu, dass sich die Meinungsfronten verhärten.

Dass sich auf der gesellschaftlich-politischen Ebene seit Jahren etwas bewegt, ist in fast allen Ländern sichtbar. Die Auflösung der Mitte ist ein sichtbares Zeichen. Die Volksparteien haben an Zuspruch verloren und vor allem die rechten, extremistischen Ränder sind erstarkt. Die AfD ist in Deutschland ein Zeichen dafür, die wachsende Popularität rechts-konservativer Parteien in Frankreich, Skandinavien oder Spanien ein weiteres. In den USA ist der liberale Konservatismus nur noch eine Randerscheinung und in vielen arabischen Ländern hat der extreme Islamismus immer mehr Anhänger gefunden.

Fronten der Diskussionen

Die Fronten in den Diskussionen verhärten sich, weil die Menge an Problemen und deren Komplexität immer größer werden. Man fühlt sich hilflos, findet keine Antwort und neigt dazu, ein Problem mit einem Schlag beenden zu wollen, anstatt den gordischen Knoten aufzudröseln. Die Demokratie, die linke- oder konservative Mitte, diejenigen, die Dinge diplomatisch abwägen wollen, werden aber von jenen in die Zange genommen, die auf eine radikale Lösung drängen. Die Demokratie selbst gerät so in Gefahr, auch weil sie gegenüber den extremen Meinungen zu tolerant ist. Aber wie geht man damit um?

Von Karl Popper, dem großen österreichischen Philosophen der Neuzeit, stammt folgender Satz.

"Wir sollten daher im Namen der Toleranz das Recht für uns in Anspruch nehmen, die Unduldsamen nicht zu dulden. Wir sollten geltend machen, dass sich jede Bewegung, die die Intoleranz predigt, außerhalb des Gesetzes stellt, und wir sollten eine Aufforderung zur Intoleranz und Verfolgung als ebenso verbrecherisch behandeln wie eine Aufforderung zum Mord, zum Raub oder zur Wiedereinführung des Sklavenhandels."

Es ist das bekannte Toleranz-Paradoxon unter dem Demokratien gerade besonders leiden. Ab wann muss eine Demokratie ihre Toleranz ablegen, weil ihr gegenüber intolerante Gruppen, die Freiheit der Demokratie ausnutzen, um sie abzuschaffen? Wie lange kann man also die AfD gewähren lassen, wie lange soll man Salafisten und extremistische Islamisten öffentlich marschieren lassen und ihnen die Freiheit zugestehen, in der sie daran arbeiten, in Europa ein Kalifat einzuführen.

In der bundesdeutschen Verfassung gibt sehr hohe Hürden, wenn es um das Verbot von Parteien oder Vereinen geht. Der dazugehörige bürokratische Prozess ist lang und kompliziert. Schon der Ausschluss eines einzelnen Mitglieds aus einer Partei ist langwierig. Dass das so ist, hat gute Gründe, die alle noch mit dem Jahr 1933 zu tun haben. Dass die Nationalsozialisten das gesamte demokratische System der Weimarer Republik in wenigen Monaten aushebeln konnten, hat dazu geführt, dass die Verfassung Deutschlands auf mehreren Ebenen dagegen Schutzmaßnahmen getroffen hat.

Diese Hürden werden aber immer mehr von Strömungen ausgenutzt, die die Demokratie abschaffen wollen. Einerseits, weil sie grundsätzlich nicht mit demokratischen Werten übereinstimmen, andererseits, weil sie damit schlicht ihre Machtbasis verbreitern wollen. Die sich in Auflösung befindlichen Ränder der politischen Parteien sind das Becken, in dem diese Gruppen fischen. Von der Politik der letzten Jahrzehnte enttäuschte Menschen, die keine andere Alternativen mehr sehen oder sehen wollen.

Und dann gibt es zusätzlich noch eine Gruppe aus den vor allem im letzten Jahrzehnt nach Europa gekommenen Migranten. Die einen haben keine historisch gewachsene Erfahrung im Umgang mit Demokratien, die anderen haben Schwierigkeiten, einen säkularen Staat zu akzeptieren, der im Gegensatz zu ihren religiösen Überzeugungen steht. Beide Gruppen machen dies auch auf Demonstrationen deutlich. Wie neulich in Berlin oder Essen.

Geschichte wiederholt sich

Historisch betrachtet, ist das nichts Neues. Gesellschaften neigen dazu, sich in eine Art tödliche Spirale zu begeben. Nach dem wirtschaftlichen Erfolg (wie zum Beispiel die 50er- und 60er-Jahre in Deutschland) tritt man in eine Phase der Selbstzufriedenheit ein. Hier waren es die 70er-Jahre) Es folgt eine Phase der Überregulierung (80er- und 90er-Jahre), vor allem in Zeiten wirtschaftlicher Schwäche. Einzelne Elemente einer Gesellschaft nutzen Machtpositionen aus und verhindern notwendige Anpassungen, die Gesellschaft driftet finanziell auseinander (seit den frühen 2000ern) Es kommt zu Aufständen, religiösem Eifer, politischen Ausfransungen usw. Tausendmal gesehen, es gibt unzählige Bücher dazu.

Eigentlich sollte man meinen, müsste man aus diesen gut dokumentierten Vorgängen der Geschichte, die zuletzt vor noch nicht mal 100 Jahren stattgefunden haben, etwas gelernt haben. Aber scheinbar ist das nicht der Fall. Die freiheitsliebenden Demokratien und Gesellschaften stehen der Intoleranz mit der gleichen Hilflosigkeit gegenüber, wie das Generationen vor ihnen der Fall war. Der Niedergang demokratischer Kulturen ist deutlich sichtbar.

Die Mittel der "wehrhaften Demokratie" bestehen vor allem aus langwierigen rechtlichen Prozessen, um ihre Feinde zu bezwingen. Aber reichen diese Mittel heute noch aus? Wie geht man mit Feinden um, die die Demokratie auslachen? Ich habe das Gefühl, dass die Demokratie dazu gezwungen sein könnte, ja vielleicht sogar gezwungen werden muss, bei einer ernsthaften Bedrohung Mittel anzuwenden, die ihrer Natur eigentlich widersprechen. Wenn Feinde der Demokratie diese von innen aushöhlen, wenn das Gewaltmonopol infrage gestellt wird, dann muss die Demokratie darauf eine Antwort haben. Es kann nicht sein, dass Rechtsextreme, Antisemiten oder Anti-Muslimische Kräfte, um nur mal einige Beispiele zu nennen, das Wesen und den Charakter einer Demokratie gefährden.

Womit ich wieder beim Toleranz-Paradoxon bin, das Karl Popper beschrieben hat. Wenn die Intoleranten die Bedingungen des Gesellschaftsvertrags verletzt haben, stehen sie daher nicht mehr unter dessen Schutz. Doch das schafft dann wieder das nächste Problem. Denn wer stellt fest, was intolerant ist und was nicht? Die oben beschriebenen Mittel dürfen nicht so weit reichen, dass sich die Demokratie dadurch wieder selbst gefährdet. Meint, es müssen Mittel sein, die durch einzelne, durch welchen Umstand auch immer an die Macht gekommene Gruppen, nicht ausgenutzt werden können.

Toleranz auf staatlicher Ebene ist eine schwierige Gratwanderung. Privat kann man das natürlich anders sehen, weil man nur Einfluss auf sein Umfeld hat. Was dann wieder zu einer Dissonanz zwischen Bürgern und Regierung führen kann. Man erlebt Momente, die man selbst kennt. Um mal ein populistisches Beispiel zu nutzen: "Warum wirft man Extremisten, die als Asylsuchenden in Deutschland sind, nicht sofort raus? Warum wirft man jemanden, der sich öffentlich den Tod dieser oder jener Gruppe fordert, nicht sofort in Gefängnis?". Es ist dann genau diese Dissonanz zwischen der eigenen gefühlten Toleranz, oder besser gesagt dem Ende der Toleranz, und dem, was der Staat darf und kann, die auch dazu führt, dass die Unzufriedenheit mit einer Regierung steigt. "Die machen ja nichts da oben".

Ich bin alt genug, um mich an die Zeiten in den späten 70ern und 80ern zu erinnern. Damals, als die RAF mit ihrem Terror Deutschland überzog. Die Reaktionen waren damals ähnlich. Ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung, auch in meiner Familie, plädierte für ein standrechtliches Erschießungskommando, sollte man einen Terroristen festnehmen. Das hat der Staat nicht gemacht und das war auch gut so. Der Staat machte, was er heute auch noch macht. Erst mal verhandeln, so wie bei der Entführung von Peter Lorenz, der wieder frei kam, als man etliche Gefangene entließ. Aber er machte auch, nach dem Verhandlungen nur wenig brachten, mit den Mitteln, die ihm zur Verfügung standen, sehr klar, dass die RAF eine Linie überschritten hatte. Die Toleranz gegenüber dieser Gruppe war aufgehoben, die Rechtsstaatlichkeit aber nicht.

Demokraten sind zu zögerlich

Ich glaube, dass Demokratien diese Fähigkeit haben und auch anwenden müssen. Und in manchen Fällen wenden sie sie einfach zu spät an. Wenn sie aber gar nicht oder zu spät handeln, dann verlieren sie entweder gegen die Intoleranten, die die Toleranz einer Demokratie ausnutzen. Oder sie treiben die eigene Bevölkerung in eine intolerante Haltung, die die Demokratie genauso gefährdet.

Zum Abschluss noch mal Karl Popper, denn er hatte meiner Meinung nach recht, als er schrieb:

"Unbegrenzte Toleranz muss zum Verschwinden der Toleranz führen. Wenn wir die grenzenlose Toleranz auch auf die Intoleranten ausdehnen, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaft gegen den Ansturm der Intoleranten zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet, und die Toleranz mit ihnen. - Mit dieser Formulierung will ich nicht sagen, dass wir zum Beispiel die Äußerung intoleranter Philosophien immer unterdrücken sollten; solange wir ihnen mit rationalen Argumenten begegnen und sie durch die öffentliche Meinung in Schach halten können, wäre eine Unterdrückung sicherlich höchst unklug. Aber wir sollten das Recht beanspruchen, sie notfalls auch mit Gewalt zu unterdrücken; denn es kann sich leicht herausstellen, dass sie nicht bereit sind, uns auf der Ebene des rationalen Arguments zu begegnen, sondern damit beginnen, jedes Argument zu denunzieren; sie können ihren Anhängern verbieten, auf rationale Argumente zu hören, weil sie trügerisch sind, und sie lehren, Argumente mit dem Gebrauch ihrer Fäuste oder Pistolen zu beantworten. Wir sollten daher im Namen der Toleranz das Recht einfordern, die Intoleranten nicht zu tolerieren."




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