Dienstag, 21. Januar 2025

„Ich scheide weit vom lauten Markt, wo stumpfe Horden ziehen, und wähle mir den stillen Park, den schönen Traum zu fliehen.“
Stefan George – Algabal (1892)

Neulich in der Küche gestanden und darüber nachgedacht, wann es eigentlich zum letzten Mal "normal" war. Muss am 07. November 2016 gewesen sein, also einen Tag vor der Wahl in den USA, als alle noch dachten, dass die Amerikaner ja wohl nicht so wahnsinnig geworden sind und Hillary Clinton die Wahl locker gewinnen würde. Dann kamen vier Jahre Trump. Kaum war der weg, kamen in schneller Reihenfolge Covid, die russische Invasion in der Ukraine, Gaskrise, Inflation, Wirtschaftskrise, Ampel-Chaos, AfD und was dazu noch im eigenen Leben noch so los war. Keine Zeit, um Atem zu holen, keine Zeit, zur Ruhe zu kommen und keine Zeit nach vorn zu schauen. Die letzten acht Jahre fühlten sich wie ein andauerndes Rückzuggefecht an.

Ich denke, dass ich damit nicht alleine bin. Wir leben seit rund 10 Jahren in einer permanenten Transformation. Politisch, wirtschaftlich und vor allem technologisch. Aber das ist nicht das erste Mal, dass es so etwas passiert. Im Übergang vom Biedermeier zur ersten Gründerzeit (1848–1880) ging es den meisten Leuten ähnlich. Da tauchte dann auch das erste Mal der Begriff "Rückzug ins Private" auf. Die Überforderung in der damaligen Zeit bestand aus technologischen Durchbrüchen (Eisenbahn) und politischen Umwälzungen in Europa (erste Formen der Demokratie, Zusammenbruch der Monarchie in Frankreich, Sezessionskrieg in den USA etc.) Das mag aus heutiger Sicht eher gemütlich wirken, war damals aber für die Menschen ebenso schwierig zu bewältigen, wie die heutigen Veränderungen. Damals wie heute haben sie den Nährboden für extremistische Bewegungen gelegt, die dann später die Weltgeschichte veränderten. 

Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen, die zwischen 1878 und 1914 stattfanden, sind in diversen Büchern aufgearbeitet. Aber besonders nachvollziehbar sind sicher die Beschreibungen von Stefan Zweig (geboren 1881) in seiner Autobiografie "Die Welt von Gestern", der aus seiner Sicht die Umwälzungen zwischen 1890 und 1930 beschrieben hat. In den gerade mal 40 Jahren wurde Europa politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich auf den Kopf gestellt. Das klingt aus heutiger Sicht weit weg, aber diese 40 Jahre entsprechen dem Zeitraum von 1984 bis 2024. Und wir erleben seit ungefähr Mitte der 90er Jahre eine ähnliche Revolution wie in der Zeit seit 1878.

Seit die Technik zu einem Bestandteil des täglichen Lebens geworden ist, stößt die Technisierung unserer Welt auf Kritik. Vor allem seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, als Wissenschaft und industrielle Nutzung erstmals eine untrennbare Einheit bildeten, ist die Debatte über den Einfluss der Technik zu einem festen Bestandteil gesellschaftlicher Auseinandersetzungen geworden. Interessanterweise war es im 19. Jahrhundert schon so, dass die gesellschaftlichen Transformationen von konservativen Kräften eher abgelehnt wurden, während die frühe Sozialdemokratie die Errungenschaften der Wissenschaft und Technik unterstützte. Deren Thema waren eher die Produktionsverhältnisse und die Verteilung der Gewinne der Unternehmen an die Arbeiter.

Das rasante Wachstum der Städte und die Veränderungen der Arbeits- und Lebensbedingungen führten bei vielen Menschen zu einem Gefühl der Entfremdung. In Reaktion darauf suchten viele Rückzugsorte in der Familie und im häuslichen Leben. Das Bürgertum propagierte ein Ideal von Häuslichkeit, das sich in einer klaren Trennung von privater und öffentlicher Sphäre ausdrückte. Das Heim wurde zum Ort der Ruhe und des moralischen Rückhalts. Ich erlebe gerade etwas Ähnliches. Der Wunsch, sich von all dem, was da draußen und in der Welt vor sich geht, abzukapseln. Ignoranz als letztes Mittel der Verteidigung. Die Frage ist aber auch, ob man sich das erlauben kann. Ob es nicht gerade jetzt die Zeit ist, in der man sich vom Sofa aufrafft, um sich lautstark den Verteidigern der Demokratie anzuschließen. Denn die brauchen jede Unterstützung, die sie bekommen können.

Die mittlerweile nicht mal versteckt agierenden Oligarchen, die gerne eine Polykratie unter dem Deckmantel einer ausgehöhlten Demokratie etablieren wollen, scheinen gegenwärtig die Oberhand zu haben. Eine Mischung aus Müdigkeit und Enttäuschung innerhalb der Zivilgesellschaft wird gerade nachhaltig ausgenutzt. Und diese Verquickung von Müdigkeit und politischer Enttäuschung ist es wohl, die es den rechten Kräften so einfach macht. Die scheinbare Mühelosigkeit, mit der ultrarechte Kräfte im Moment voranschreiten, ist erschreckend und betäubend. Wie kann man sich einer rasant wachsenden Menge von Menschen entgegenstellen? Was bleibt da nur, als der Rückzug ins Private?

So erstrebenswert es erscheinen mag, es wird nichts verändern. Bekannterweise war es gerade das Schweigen der Mittelklasse, das in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts, das dem Faschismus ermöglicht hat, störungsfrei seine Macht zu sichern. Aber die Vergleiche zu den 30er-Jahren hinken auch ein wenig. Denn es ist eben nicht so, dass der Faschismus wie in der damaligen Zeit als neue, frische Bewegung auf eine unvorbereitete Bevölkerung traf. Die Konsequenzen daraus sind einer Mehrheit der Menschen in der EU bekannt. Und anders als 1933 haben die meisten EU-Bürger viele Jahrzehnte einer Demokratie hinter sich. 

Dennoch darf man nicht in Lethargie und ins Private fallen. Die Demokratie wird nur dann überleben, wenn man sich den Kräften, die sich schwächen wollen, entgegenstellt. Der Rückzug ins Private kann dann erfolgen, wenn die Kräfte, die die Demokratie beseitigen wollen, zerstört sind.