„Ich scheide weit vom lauten Markt, wo stumpfe Horden ziehen, und wähle mir den stillen Park, den schönen Traum zu fliehen.“
Stefan George – Algabal (1892)
Neulich in der Küche gestanden und darüber nachgedacht, wann es eigentlich zum letzten Mal "normal" war. Muss am 07. November 2016 gewesen sein, also einen Tag vor der Wahl in den USA, als alle noch dachten, dass die Amerikaner ja wohl nicht so wahnsinnig geworden sind und Hillary Clinton die Wahl locker gewinnen würde. Dann kamen vier Jahre Trump. Kaum war der weg, kamen in schneller Reihenfolge Covid, die russische Invasion in der Ukraine, Gaskrise, Inflation, Wirtschaftskrise, Ampel-Chaos, AfD und was dazu noch im eigenen Leben noch so los war. Keine Zeit, um Atem zu holen, keine Zeit, zur Ruhe zu kommen und keine Zeit nach vorn zu schauen. Die letzten acht Jahre fühlten sich wie ein andauerndes Rückzuggefecht an.
Ich denke, dass ich damit nicht alleine bin. Wir leben seit rund 10 Jahren in einer permanenten Transformation. Politisch, wirtschaftlich und vor allem technologisch. Aber das ist nicht das erste Mal, dass es so etwas passiert. Im Übergang vom Biedermeier zur ersten Gründerzeit (1848–1880) ging es den meisten Leuten ähnlich. Da tauchte dann auch das erste Mal der Begriff "Rückzug ins Private" auf. Die Überforderung in der damaligen Zeit bestand aus technologischen Durchbrüchen (Eisenbahn) und politischen Umwälzungen in Europa (erste Formen der Demokratie, Zusammenbruch der Monarchie in Frankreich, Sezessionskrieg in den USA etc.) Das mag aus heutiger Sicht eher gemütlich wirken, war damals aber für die Menschen ebenso schwierig zu bewältigen, wie die heutigen Veränderungen. Damals wie heute haben sie den Nährboden für extremistische Bewegungen gelegt, die dann später die Weltgeschichte veränderten.
Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen, die zwischen 1878 und 1914 stattfanden, sind in diversen Büchern aufgearbeitet. Aber besonders nachvollziehbar sind sicher die Beschreibungen von Stefan Zweig (geboren 1881) in seiner Autobiografie "Die Welt von Gestern", der aus seiner Sicht die Umwälzungen zwischen 1890 und 1930 beschrieben hat. In den gerade mal 40 Jahren wurde Europa politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich auf den Kopf gestellt. Das klingt aus heutiger Sicht weit weg, aber diese 40 Jahre entsprechen dem Zeitraum von 1984 bis 2024. Und wir erleben seit ungefähr Mitte der 90er Jahre eine ähnliche Revolution wie in der Zeit seit 1878.
Seit die Technik zu einem Bestandteil des täglichen Lebens geworden ist, stößt die Technisierung unserer Welt auf Kritik. Vor allem seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, als Wissenschaft und industrielle Nutzung erstmals eine untrennbare Einheit bildeten, ist die Debatte über den Einfluss der Technik zu einem festen Bestandteil gesellschaftlicher Auseinandersetzungen geworden. Interessanterweise war es im 19. Jahrhundert schon so, dass die gesellschaftlichen Transformationen von konservativen Kräften eher abgelehnt wurden, während die frühe Sozialdemokratie die Errungenschaften der Wissenschaft und Technik unterstützte. Deren Thema waren eher die Produktionsverhältnisse und die Verteilung der Gewinne der Unternehmen an die Arbeiter.
Das rasante Wachstum der Städte und die Veränderungen der Arbeits- und Lebensbedingungen führten bei vielen Menschen zu einem Gefühl der Entfremdung. In Reaktion darauf suchten viele Rückzugsorte in der Familie und im häuslichen Leben. Das Bürgertum propagierte ein Ideal von Häuslichkeit, das sich in einer klaren Trennung von privater und öffentlicher Sphäre ausdrückte. Das Heim wurde zum Ort der Ruhe und des moralischen Rückhalts.
Ich erlebe gerade etwas Ähnliches. Der Wunsch, sich von all dem, was da draußen und in der Welt vor sich geht, abzukapseln. Ignoranz als letztes Mittel der Verteidigung. Die Frage ist aber auch, ob man sich das erlauben kann. Ob es nicht gerade jetzt die Zeit ist, in der man sich vom Sofa aufrafft, um sich lautstark den Verteidigern der Demokratie anzuschließen. Denn die brauchen jede Unterstützung, die sie bekommen können.
Die mittlerweile nicht mal versteckt agierenden Oligarchen, die gerne eine Polykratie unter dem Deckmantel einer ausgehöhlten Demokratie etablieren wollen, scheinen gegenwärtig die Oberhand zu haben. Eine Mischung aus Müdigkeit und Enttäuschung innerhalb der Zivilgesellschaft wird gerade nachhaltig ausgenutzt. Und diese Verquickung von Müdigkeit und politischer Enttäuschung ist es wohl, die es den rechten Kräften so einfach macht. Die scheinbare Mühelosigkeit, mit der ultrarechte Kräfte im Moment voranschreiten, ist erschreckend und betäubend. Wie kann man sich einer rasant wachsenden Menge von Menschen entgegenstellen? Was bleibt da nur, als der Rückzug ins Private?
So erstrebenswert es erscheinen mag, es wird nichts verändern. Bekannterweise war es gerade das Schweigen der Mittelklasse, das in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts, das dem Faschismus ermöglicht hat, störungsfrei seine Macht zu sichern. Aber die Vergleiche zu den 30er-Jahren hinken auch ein wenig. Denn es ist eben nicht so, dass der Faschismus wie in der damaligen Zeit als neue, frische Bewegung auf eine unvorbereitete Bevölkerung traf. Die Konsequenzen daraus sind einer Mehrheit der Menschen in der EU bekannt. Und anders als 1933 haben die meisten EU-Bürger viele Jahrzehnte einer Demokratie hinter sich.
Dennoch darf man nicht in Lethargie und ins Private fallen. Die Demokratie wird nur dann überleben, wenn man sich den Kräften, die sich schwächen wollen, entgegenstellt. Der Rückzug ins Private kann dann erfolgen, wenn die Kräfte, die die Demokratie beseitigen wollen, zerstört sind.
"Toleranz, auch Duldsamkeit, bezeichnet als philosophischer und sozialethischer Begriff ein Gewährenlassen und Geltenlassen anderer oder fremder Überzeugungen, Handlungsweisen und Sitten. Umgangssprachlich meint man damit häufig auch die Anerkennung einer Gleichberechtigung, die aber über den eigentlichen Begriff („Duldung“) hinausgeht."
Es gibt verschiedene Ebenen der Toleranz. Jene, die man selbst ausüben kann und jene, die von oder in einer Gruppe, Nation oder Religion ausübt. Während man über die grundsätzliche Bedeutung von Toleranz sicher nicht streiten kann und vor allem Katzen, oder generell Tierbesitzer in Toleranz ziemlich geübt sind, ist das bei größeren Gruppen schon etwas anders. Toleranz ist vor allem auch Empathie. Ich mag vielleicht nicht, was andere denken oder glauben, aber ich respektiere es. Elias Cannetti schrieb dazu mal:
"Die Empathie vollbringt das, was sich in der Masse nur als vorübergehende Erlösung und illusorisches Glück einstellt: Überwinden der Trennwände, Selbstentgrenzung und Selbstlosigkeit. Sie ist das rettende Gegenbild zur einverleibenden Macht."
Mit einverleibender Macht ist auch die Intoleranz gemeint und über den Zwiespalt zwischen Toleranz und Intoleranz zum einen und dem Unterschied von beiden Dingen auf der persönlichen und der staatlichen Ebene, habe ich in den vergangenen Wochen viel nachgedacht.
Dass die Welt sich in den vergangenen 30 Jahren mächtig verändert hat, dürfte mittlerweile jedem aufgefallen sein. Neue Konflikte sind aufgebrochen, alte Konflikte explodieren in kaum geahnter Brutalität, neue Weltmächte marschieren auf die Weltbühne und die Wirtschaft ist einer enormen Schieflage. Während man zu Hause sitzt und erschrocken auf die Gasrechnung starrt, verkomplizieren sich die Probleme. Und der gute Wille, die Probleme zur Zufriedenheit möglichst aller zu lösen, der schwindet wie das Eis in der Antarktis. Das alles führt vor allem dazu, dass sich die Meinungsfronten verhärten.
Dass sich auf der gesellschaftlich-politischen Ebene seit Jahren etwas bewegt, ist in fast allen Ländern sichtbar. Die Auflösung der Mitte ist ein sichtbares Zeichen. Die Volksparteien haben an Zuspruch verloren und vor allem die rechten, extremistischen Ränder sind erstarkt. Die AfD ist in Deutschland ein Zeichen dafür, die wachsende Popularität rechts-konservativer Parteien in Frankreich, Skandinavien oder Spanien ein weiteres. In den USA ist der liberale Konservatismus nur noch eine Randerscheinung und in vielen arabischen Ländern hat der extreme Islamismus immer mehr Anhänger gefunden.
Fronten der Diskussionen
Die Fronten in den Diskussionen verhärten sich, weil die Menge an Problemen und deren Komplexität immer größer werden. Man fühlt sich hilflos, findet keine Antwort und neigt dazu, ein Problem mit einem Schlag beenden zu wollen, anstatt den gordischen Knoten aufzudröseln. Die Demokratie, die linke- oder konservative Mitte, diejenigen, die Dinge diplomatisch abwägen wollen, werden aber von jenen in die Zange genommen, die auf eine radikale Lösung drängen. Die Demokratie selbst gerät so in Gefahr, auch weil sie gegenüber den extremen Meinungen zu tolerant ist. Aber wie geht man damit um?
Von Karl Popper, dem großen österreichischen Philosophen der Neuzeit, stammt folgender Satz.
"Wir sollten daher im Namen der Toleranz das Recht für uns in Anspruch nehmen, die Unduldsamen nicht zu dulden. Wir sollten geltend machen, dass sich jede Bewegung, die die Intoleranz predigt, außerhalb des Gesetzes stellt, und wir sollten eine Aufforderung zur Intoleranz und Verfolgung als ebenso verbrecherisch behandeln wie eine Aufforderung zum Mord, zum Raub oder zur Wiedereinführung des Sklavenhandels."
Es ist das bekannte Toleranz-Paradoxon unter dem Demokratien gerade besonders leiden. Ab wann muss eine Demokratie ihre Toleranz ablegen, weil ihr gegenüber intolerante Gruppen, die Freiheit der Demokratie ausnutzen, um sie abzuschaffen? Wie lange kann man also die AfD gewähren lassen, wie lange soll man Salafisten und extremistische Islamisten öffentlich marschieren lassen und ihnen die Freiheit zugestehen, in der sie daran arbeiten, in Europa ein Kalifat einzuführen.
In der bundesdeutschen Verfassung gibt sehr hohe Hürden, wenn es um das Verbot von Parteien oder Vereinen geht. Der dazugehörige bürokratische Prozess ist lang und kompliziert. Schon der Ausschluss eines einzelnen Mitglieds aus einer Partei ist langwierig. Dass das so ist, hat gute Gründe, die alle noch mit dem Jahr 1933 zu tun haben. Dass die Nationalsozialisten das gesamte demokratische System der Weimarer Republik in wenigen Monaten aushebeln konnten, hat dazu geführt, dass die Verfassung Deutschlands auf mehreren Ebenen dagegen Schutzmaßnahmen getroffen hat.
Diese Hürden werden aber immer mehr von Strömungen ausgenutzt, die die Demokratie abschaffen wollen. Einerseits, weil sie grundsätzlich nicht mit demokratischen Werten übereinstimmen, andererseits, weil sie damit schlicht ihre Machtbasis verbreitern wollen. Die sich in Auflösung befindlichen Ränder der politischen Parteien sind das Becken, in dem diese Gruppen fischen. Von der Politik der letzten Jahrzehnte enttäuschte Menschen, die keine andere Alternativen mehr sehen oder sehen wollen.
Und dann gibt es zusätzlich noch eine Gruppe aus den vor allem im letzten Jahrzehnt nach Europa gekommenen Migranten. Die einen haben keine historisch gewachsene Erfahrung im Umgang mit Demokratien, die anderen haben Schwierigkeiten, einen säkularen Staat zu akzeptieren, der im Gegensatz zu ihren religiösen Überzeugungen steht. Beide Gruppen machen dies auch auf Demonstrationen deutlich. Wie neulich in Berlin oder Essen.
Geschichte wiederholt sich
Historisch betrachtet, ist das nichts Neues. Gesellschaften neigen dazu, sich in eine Art tödliche Spirale zu begeben. Nach dem wirtschaftlichen Erfolg (wie zum Beispiel die 50er- und 60er-Jahre in Deutschland) tritt man in eine Phase der Selbstzufriedenheit ein. Hier waren es die 70er-Jahre) Es folgt eine Phase der Überregulierung (80er- und 90er-Jahre), vor allem in Zeiten wirtschaftlicher Schwäche. Einzelne Elemente einer Gesellschaft nutzen Machtpositionen aus und verhindern notwendige Anpassungen, die Gesellschaft driftet finanziell auseinander (seit den frühen 2000ern) Es kommt zu Aufständen, religiösem Eifer, politischen Ausfransungen usw. Tausendmal gesehen, es gibt unzählige Bücher dazu.
Eigentlich sollte man meinen, müsste man aus diesen gut dokumentierten Vorgängen der Geschichte, die zuletzt vor noch nicht mal 100 Jahren stattgefunden haben, etwas gelernt haben. Aber scheinbar ist das nicht der Fall. Die freiheitsliebenden Demokratien und Gesellschaften stehen der Intoleranz mit der gleichen Hilflosigkeit gegenüber, wie das Generationen vor ihnen der Fall war. Der Niedergang demokratischer Kulturen ist deutlich sichtbar.
Die Mittel der "wehrhaften Demokratie" bestehen vor allem aus langwierigen rechtlichen Prozessen, um ihre Feinde zu bezwingen. Aber reichen diese Mittel heute noch aus? Wie geht man mit Feinden um, die die Demokratie auslachen? Ich habe das Gefühl, dass die Demokratie dazu gezwungen sein könnte, ja vielleicht sogar gezwungen werden muss, bei einer ernsthaften Bedrohung Mittel anzuwenden, die ihrer Natur eigentlich widersprechen. Wenn Feinde der Demokratie diese von innen aushöhlen, wenn das Gewaltmonopol infrage gestellt wird, dann muss die Demokratie darauf eine Antwort haben. Es kann nicht sein, dass Rechtsextreme, Antisemiten oder Anti-Muslimische Kräfte, um nur mal einige Beispiele zu nennen, das Wesen und den Charakter einer Demokratie gefährden.
Womit ich wieder beim Toleranz-Paradoxon bin, das Karl Popper beschrieben hat. Wenn die Intoleranten die Bedingungen des Gesellschaftsvertrags verletzt haben, stehen sie daher nicht mehr unter dessen Schutz. Doch das schafft dann wieder das nächste Problem. Denn wer stellt fest, was intolerant ist und was nicht? Die oben beschriebenen Mittel dürfen nicht so weit reichen, dass sich die Demokratie dadurch wieder selbst gefährdet. Meint, es müssen Mittel sein, die durch einzelne, durch welchen Umstand auch immer an die Macht gekommene Gruppen, nicht ausgenutzt werden können.
Toleranz auf staatlicher Ebene ist eine schwierige Gratwanderung. Privat kann man das natürlich anders sehen, weil man nur Einfluss auf sein Umfeld hat. Was dann wieder zu einer Dissonanz zwischen Bürgern und Regierung führen kann. Man erlebt Momente, die man selbst kennt. Um mal ein populistisches Beispiel zu nutzen: "Warum wirft man Extremisten, die als Asylsuchenden in Deutschland sind, nicht sofort raus? Warum wirft man jemanden, der sich öffentlich den Tod dieser oder jener Gruppe fordert, nicht sofort in Gefängnis?". Es ist dann genau diese Dissonanz zwischen der eigenen gefühlten Toleranz, oder besser gesagt dem Ende der Toleranz, und dem, was der Staat darf und kann, die auch dazu führt, dass die Unzufriedenheit mit einer Regierung steigt. "Die machen ja nichts da oben".
Ich bin alt genug, um mich an die Zeiten in den späten 70ern und 80ern zu erinnern. Damals, als die RAF mit ihrem Terror Deutschland überzog. Die Reaktionen waren damals ähnlich. Ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung, auch in meiner Familie, plädierte für ein standrechtliches Erschießungskommando, sollte man einen Terroristen festnehmen. Das hat der Staat nicht gemacht und das war auch gut so. Der Staat machte, was er heute auch noch macht. Erst mal verhandeln, so wie bei der Entführung von Peter Lorenz, der wieder frei kam, als man etliche Gefangene entließ. Aber er machte auch, nach dem Verhandlungen nur wenig brachten, mit den Mitteln, die ihm zur Verfügung standen, sehr klar, dass die RAF eine Linie überschritten hatte. Die Toleranz gegenüber dieser Gruppe war aufgehoben, die Rechtsstaatlichkeit aber nicht.
Demokraten sind zu zögerlich
Ich glaube, dass Demokratien diese Fähigkeit haben und auch anwenden müssen. Und in manchen Fällen wenden sie sie einfach zu spät an. Wenn sie aber gar nicht oder zu spät handeln, dann verlieren sie entweder gegen die Intoleranten, die die Toleranz einer Demokratie ausnutzen. Oder sie treiben die eigene Bevölkerung in eine intolerante Haltung, die die Demokratie genauso gefährdet.
Zum Abschluss noch mal Karl Popper, denn er hatte meiner Meinung nach recht, als er schrieb:
"Unbegrenzte Toleranz muss zum Verschwinden der Toleranz führen. Wenn wir die grenzenlose Toleranz auch auf die Intoleranten ausdehnen, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaft gegen den Ansturm der Intoleranten zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet, und die Toleranz mit ihnen. - Mit dieser Formulierung will ich nicht sagen, dass wir zum Beispiel die Äußerung intoleranter Philosophien immer unterdrücken sollten; solange wir ihnen mit rationalen Argumenten begegnen und sie durch die öffentliche Meinung in Schach halten können, wäre eine Unterdrückung sicherlich höchst unklug. Aber wir sollten das Recht beanspruchen, sie notfalls auch mit Gewalt zu unterdrücken; denn es kann sich leicht herausstellen, dass sie nicht bereit sind, uns auf der Ebene des rationalen Arguments zu begegnen, sondern damit beginnen, jedes Argument zu denunzieren; sie können ihren Anhängern verbieten, auf rationale Argumente zu hören, weil sie trügerisch sind, und sie lehren, Argumente mit dem Gebrauch ihrer Fäuste oder Pistolen zu beantworten. Wir sollten daher im Namen der Toleranz das Recht einfordern, die Intoleranten nicht zu tolerieren."
Auf dem katholischen Internat, auf dem ich zeitweise war (bis ich rausgeflogen bin, aber das ist eine andere Geschichte), hatte ich einen sehr guten Religionslehrer. Er war ein höchst gebildeter Theologe und machte daraus auch keinen Hehl. Um die Aufgaben seiner Tests allein zu verstehen zu können, benötigte man einen Fremdwörter-Duden und selbst der reichte oft nicht aus, um die von ihm genutzten Fachwörter zu verstehen. Das Überraschende an ihm war, dass er "nur" Bruder war. Kein geweihter Priester, was man eigentlich erwarten würde. Weil es ein katholisches Internat war und er immerhin der Religionslehrer in dieser Schule. Auf die Frage, warum er sich denn nie habe zum Priester weihen lassen, erwiderte er etwas, was mich bis heute prägt.
"Ich bin Theologe, sagte er, "und ich sehe die Theologie nicht als reine Forschung biblischer oder anderer religiöser Schriften, sondern als Wissenschaft. Und als Wissenschaftler beschäftige ich mich mit dem Wesen von Gott. Ob ein Gott existiert oder nicht, darum geht es in meiner Forschung. Und weil ich die Frage, ob ein Gott existiert, nicht beantworten kann, kann ich nicht mit gutem Gewissen einen Eid als Priester auf diesen Gott ablegen."
Ich empfand diese Haltung als damals merkwürdig, ambivalent und wenig hilfreich. Man entscheidet sich doch immer für dieses oder jenes, sonst gibt es keine Antworten. Und im Falle des Glaubens erst recht. Aber je älter ich wurde, desto mehr verstand ich ihn. Seine Aussage hat eine doppelte Bedeutung für mich. Erstens: Es ist leicht eine Haltung einzunehmen, wenn man sie nicht hinterfragt. Zweitens: Die Wahrheit liegt oft nicht darin, sich für eine Seite zu entscheiden, sondern in der Ausgewogenheit der Fakten.
Für diese Haltung braucht es eine gesunde Bildung, etwas Skepsis, auch sich selbst gegenüber, und Zeit. Drei Dinge, die dieser Tage scheinbar ziemlich aus der Mode gekommen sind. Neu ist das aber ist nicht. Reflexartige Bewertungen hat es schon immer gegeben, auch im Mittelalter, Fake News eingeschlossen.
Ein Antreiber der zunehmenden Polarisierung der öffentlichen Meinungen sind die sozialen Medien. Ich habe vor Jahren mal geschrieben, dass es gut ist, dass die Türwächter der Informationen (Printmedien) von Blogs abgelöst werden. Das war, im Nachhinein betrachtet, eine überaus idealistische Interpretation der Möglichkeiten, die Blogs bieten. Auch wenn Blogs zeitweilig das Informationsspektrum verbreitert haben und es teilweise auch noch machen, fehlt heute genau das: ein Gatekeeping von Informationen.
Denn was bei den Nachfolgern der Blogs, Plattformen wie Instagram oder Tiktok abgeht, ist unbeschreiblich. Ein fortwährender Strom von Desinformationen, Lügen, Deep Fakes in millionenfacher Form. Die haben nur ein Ziel: Meinungen formen, die sich möglichst diametral und unversöhnlich gegenüberstehen. Nicht die Betrachtung, die Analyse, die Distanz stehen im Vordergrund, sondern eine von Emotionen angetriebene Spaltung der Aufmerksamkeit.
Es gewinnen scheinbar, für einen Moment in der Geschichte, immer jene, die am lautesten schreien, lügen und betrügen. Das war Ende der 20er-Jahre des letzten Jahrhunderts so, das ist leider wieder heute so. Donald Trump mag die bekannteste Figur eines sich gerade wiederholenden Zeitalters sein, aber ist bei Weitem nicht allein. Der Brexit basierte darauf, und die AfD nutzt das Instrumentarium genau so. Dass es an den Rändern schon immer so war, ist keine Überraschung. Dass es in die Mitte schwappt, schon. Am Ende berichtigt der Lauf der Geschichte immer die extremen Auswüchse, aber immer nur um den Preis von vielen Menschenleben.
Sichtbar wurde der neuerliche Auswuchs der extremen Meinungen in den vergangenen Wochen, wenn es um das Thema Israel ging. Historische Mangelbildung auf der einen Seite, ein latenter Antisemitismus, der sich bis tief ins linke Lager zieht und gewaltige Desinformationskampagnen in den sozialen Medien, haben zu einer Lage geführt, bei der es fast unmöglich geworden ist, eine Haltung einzunehmen, die faktenbasiert versucht (und mehr als ein Versuch kann es nicht sein) die Dinge zu betrachten.
Was mich wieder zu meinem Religionslehrer bringt. Der versuchte etwas Unmögliches zu schaffen, in dem er Sinnsuche mit Fakten verbinden wollte. Was aber dazu geführt hat, dass er immer wieder eine distanzierte Position einnehmen konnte. Davon kann man auch heute noch lernen und auch in Situationen, in denen es scheinbar unmöglich ist, eine differenzierte Meinung einzunehmen.
Wie in Israel, wo man Empathie für Juden zeigen und gleichzeitig die Okkupationspolitik der israelischen Regierung ablehnen kann. Oder in der Asylpolitik, in der man die Zuwanderung verfolgter und schutzloser Menschen unterstützt und gleichzeitig anerkennt, dass es auch Menschen gibt, die die Offenheit und Gastfreundlichkeit ausnutzen. Und die damit die Hilfe für andere unterminieren.
Positionen der Mitte sind selten geworden, sie drohen unterzugehen im allgemeinen Geschrei, in der Hetze der sozialen Medien. Sie werden aufgerieben von den schamlosen Lügen der politischen Extremisten. Und deswegen war es noch nie so wichtig, die Position der Mitte zu verteidigen. Oder, wie mein Religionslehrer gerne mal über seine Textaufgaben schrieb: "Errata corrigere, superflua abscidere, recta cohartare" (Irrtümer zu berichtigen, Überflüssiges zu entfernen, Richtiges zu bekräftigen.)