Auf dem katholischen Internat, auf dem ich zeitweise war (bis ich rausgeflogen bin, aber das ist eine andere Geschichte), hatte ich einen sehr guten Religionslehrer. Er war ein höchst gebildeter Theologe und machte daraus auch keinen Hehl. Um die Aufgaben seiner Tests allein zu verstehen zu können, benötigte man einen Fremdwörter-Duden und selbst der reichte oft nicht aus, um die von ihm genutzten Fachwörter zu verstehen. Das Überraschende an ihm war, dass er "nur" Bruder war. Kein geweihter Priester, was man eigentlich erwarten würde. Weil es ein katholisches Internat war und er immerhin der Religionslehrer in dieser Schule. Auf die Frage, warum er sich denn nie habe zum Priester weihen lassen, erwiderte er etwas, was mich bis heute prägt.

"Ich bin Theologe, sagte er, "und ich sehe die Theologie nicht als reine Forschung biblischer oder anderer religiöser Schriften, sondern als Wissenschaft. Und als Wissenschaftler beschäftige ich mich mit dem Wesen von Gott. Ob ein Gott existiert oder nicht, darum geht es in meiner Forschung. Und weil ich die Frage, ob ein Gott existiert, nicht beantworten kann, kann ich nicht mit gutem Gewissen einen Eid als Priester auf diesen Gott ablegen." Ich empfand diese Haltung als damals merkwürdig, ambivalent und wenig hilfreich. Man entscheidet sich doch immer für dieses oder jenes, sonst gibt es keine Antworten. Und im Falle des Glaubens erst recht. Aber je älter ich wurde, desto mehr verstand ich ihn. Seine Aussage hat eine doppelte Bedeutung für mich. Erstens: Es ist leicht eine Haltung einzunehmen, wenn man sie nicht hinterfragt. Zweitens: Die Wahrheit liegt oft nicht darin, sich für eine Seite zu entscheiden, sondern in der Ausgewogenheit der Fakten.

Für diese Haltung braucht es eine gesunde Bildung, etwas Skepsis, auch sich selbst gegenüber, und Zeit. Drei Dinge, die dieser Tage scheinbar ziemlich aus der Mode gekommen sind. Neu ist das aber ist nicht. Reflexartige Bewertungen hat es schon immer gegeben, auch im Mittelalter, Fake News eingeschlossen.

Ein Antreiber der zunehmenden Polarisierung der öffentlichen Meinungen sind die sozialen Medien. Ich habe vor Jahren mal geschrieben, dass es gut ist, dass die Türwächter der Informationen (Printmedien) von Blogs abgelöst werden. Das war, im Nachhinein betrachtet, eine überaus idealistische Interpretation der Möglichkeiten, die Blogs bieten. Auch wenn Blogs zeitweilig das Informationsspektrum verbreitert haben und es teilweise auch noch machen, fehlt heute genau das: ein Gatekeeping von Informationen.

Denn was bei den Nachfolgern der Blogs, Plattformen wie Instagram oder Tiktok abgeht, ist unbeschreiblich. Ein fortwährender Strom von Desinformationen, Lügen, Deep Fakes in millionenfacher Form. Die haben nur ein Ziel: Meinungen formen, die sich möglichst diametral und unversöhnlich gegenüberstehen. Nicht die Betrachtung, die Analyse, die Distanz stehen im Vordergrund, sondern eine von Emotionen angetriebene Spaltung der Aufmerksamkeit.

Es gewinnen scheinbar, für einen Moment in der Geschichte, immer jene, die am lautesten schreien, lügen und betrügen. Das war Ende der 20er-Jahre des letzten Jahrhunderts so, das ist leider wieder heute so. Donald Trump mag die bekannteste Figur eines sich gerade wiederholenden Zeitalters sein, aber ist bei Weitem nicht allein. Der Brexit basierte darauf, und die AfD nutzt das Instrumentarium genau so. Dass es an den Rändern schon immer so war, ist keine Überraschung. Dass es in die Mitte schwappt, schon. Am Ende berichtigt der Lauf der Geschichte immer die extremen Auswüchse, aber immer nur um den Preis von vielen Menschenleben.

Sichtbar wurde der neuerliche Auswuchs der extremen Meinungen in den vergangenen Wochen, wenn es um das Thema Israel ging. Historische Mangelbildung auf der einen Seite, ein latenter Antisemitismus, der sich bis tief ins linke Lager zieht und gewaltige Desinformationskampagnen in den sozialen Medien, haben zu einer Lage geführt, bei der es fast unmöglich geworden ist, eine Haltung einzunehmen, die faktenbasiert versucht (und mehr als ein Versuch kann es nicht sein) die Dinge zu betrachten.

Was mich wieder zu meinem Religionslehrer bringt. Der versuchte etwas Unmögliches zu schaffen, in dem er Sinnsuche mit Fakten verbinden wollte. Was aber dazu geführt hat, dass er immer wieder eine distanzierte Position einnehmen konnte. Davon kann man auch heute noch lernen und auch in Situationen, in denen es scheinbar unmöglich ist, eine differenzierte Meinung einzunehmen.

Wie in Israel, wo man Empathie für Juden zeigen und gleichzeitig die Okkupationspolitik der israelischen Regierung ablehnen kann. Oder in der Asylpolitik, in der man die Zuwanderung verfolgter und schutzloser Menschen unterstützt und gleichzeitig anerkennt, dass es auch Menschen gibt, die die Offenheit und Gastfreundlichkeit ausnutzen. Und die damit die Hilfe für andere unterminieren.

Positionen der Mitte sind selten geworden, sie drohen unterzugehen im allgemeinen Geschrei, in der Hetze der sozialen Medien. Sie werden aufgerieben von den schamlosen Lügen der politischen Extremisten. Und deswegen war es noch nie so wichtig, die Position der Mitte zu verteidigen. Oder, wie mein Religionslehrer gerne mal über seine Textaufgaben schrieb: "Errata corrigere, superflua abscidere, recta cohartare" (Irrtümer zu berichtigen, Überflüssiges zu entfernen, Richtiges zu bekräftigen.)