"Denkst Du, man kann regieren und dabei moralisch unschuldig bleiben?" (Sartre, Die schmutzigen Hände)

Wir reden gerade viel über Anstand und Moral in der Politik. Und darüber, ob es so was in der Politik überhaupt noch gibt. Wobei die Frage nach der Moral ja dehnbar ist. Nicht jeder teilt alle moralischen Positionen einer anderen Person. Das mag religiöse Gründe haben, das mag sich in politischen Überzeugungen äußern. Die Frage nach der "richtigen Moral" beschäftigt Philosophen seit Jahrtausenden. Eine Antwort darauf gibt es bis heute nicht und sie wird vermutlich auch nicht gefunden werden, weil Moral ja auch etwas ist, was durch den Zeitgeist bestimmt werden kann. Gleiches gilt für die Frage nach dem Anstand.

Aber man kann sich zumindest in der Zeit, in der man lebt, auf einen moralischen Kompass einigen. Und die Geschichte der Menschheit hat auch gezeigt, dass bestimmte moralische Positionen sich immer wiederholen. Grundsätzliche moralische Positionen sind von vielen beschrieben worden, zuletzt auch von Hannah Arendt. Und besonders wichtig sind Grenzen des Anstands und der Moral (also was man nicht machen sollte) in der Politik, weil diese Vorbildcharakter hat. Und Mitglieder des Parlaments als Vertreter der Bürger:innen sind auch ein Spiegelbild der Gesellschaft.

Dabei macht es im Moment, nicht nur in Deutschland, den Eindruck, dass Positionen, die eigentlich als fest galten, verschoben werden. Der Umgang mit der rechtsextremen, staats- und europafeindlichen AfD macht das deutlich. Die Bestürzung darüber, dass Friedrich Merz, ohne Not und politischen Druck, gemeinsam mit der AfD einen sinnlosen Entschließungsantrag durchgeboxt hat, ist groß. Denn abgesehen davon, dass er gegen seine eigenen früheren Versprechungen gehandelt hat, hat er eine moralische Anstandslinie übertreten. Die Frage stellt sich dann, ob es so was wie Moral und Anstand in der heutigen Politik überhaupt noch gibt.

Wir haben ja erlebt, dass moralische Integrität mit Politik durchaus vereinbar ist. Dazu muss man gar nicht weit zurückschauen. Das letzte Beispiel ist wenige Wochen alt und stammt von Volker Wissing. Der trat aus der FDP aus, nachdem diese Dolchstoß-artig die Ampel-Koalition verlassen wollte. Wissing stellte seine moralische Integrität über seine Parteikarriere. Ein in der Bundesrepublik sicherlich seltener Fall.

Es ist ein oft diskutierter Punkt, ob Politiker früherer Zeiten einen anderen moralischen Kompass und ein anderes Verständnis von Demokratie hatten. Richtig ist: Die Politik in West-Deutschland wurde bis in die 80er-Jahre von jenen geprägt, die die Schreckenszeit der Nationalsozialismus und den Krieg erleben mussten. Die Angst, dass sich dies wiederholen könnte, war eine der wichtigsten Grundlagen westdeutscher Politik und wurde quer durch alle Parteien unisono geteilt. Die öffentliche und im Bundestag geführte Debatte um die Notstandsgesetze im Jahr 1968 war ein gutes Beispiel dafür. Dass das ursprüngliche Gesetz abgeschwächt wurde, ist auch dieser Debatte und (man mag es heute kaum glauben) der FDP zu verdanken, die sich an die Seite der Gewerkschaften und der Studentenbünde stellte.

Die Kriegsgeneration ist verstorben und mit ihr auch die Politiker, die West-Deutschland über fast 50 Jahre geprägt haben. Der letzte, noch lebende Politiker ist Gerhard Baum (FDP), dessen Stimme nicht nur in seiner eigenen Partei leider viel zu oft ignoriert wird. Aber mit dem Verschwinden dieser Generation der Politiker hat sich auch Deutschland verändert. Auf Helmut Kohl, der aus einem engen Netzwerk heraus regiert, folgte Gerhard Schröder. Dessen politische wie moralische Überzeugungen hat er am besten selbst zusammen gefasst, als er sagte "Zum Regieren brauche ich nur Bild, BamS und die Glotze".

Der oft als "Medienkanzler" beschriebene Schröder stellte eine Zäsur in der Politik dar. Nicht nur, weil er der erste Kanzler ohne Kriegserfahrung war, sondern auch, weil er den Populismus als integralen Teil seines politischen Wirkens betrachtete. Das hat sich in den letzten 25 Jahren durch das Internet noch weiter verstärkt. Hinzu kommt, dass Politiker oft nicht mehr aus Überzeugung in der Politik sind, sondern weil es eine Karriereentscheidung ist.

Natürlich war das selbst in den 1950er Jahren nicht anders. Der Roman "Das Treibhaus" von Wolfgang Koeppen von 1953 beschreibt das Leben eines unscheinbaren Abgeordneten in Bonn, der von seiner Partei instrumentalisiert wird und von Politikern umgeben ist, denen jedes Mittel Recht ist, um ihre Position zu festigen. Die Geschichte der Bonner Republik ist voll von solchen Ereignissen und Mustern. Ich habe aus einer gewissen Nähe die Lebensgeschichten einiger Politiker aus den hinteren Reihen des Bundestags erlebt. Deren Lebensziel bestand vor allem daraus, sich durchzumogeln, Geld zu verdienen und die wie auch immer klein geratene Position der Macht zu verteidigen. Gerne auch in einem engmaschigen Netzwerk alter "Parteifreunde" (gemeint ist die NSDAP).

Doch was große Teile dieser, der Korruption durch Macht ausgesetzte Generation, nicht bestritt, war die Feststellung, dass man mit Rechtsradikalen und Nazis keine gemeinsamen Sachen würde.

Dass sich die Zeiten nachhaltig geändert haben, ist offensichtlich. Der ehemalige Bundespräsident Walter Scheel sagt mal: "Es kann nicht die Aufgabe eines Politikers sein, die öffentliche Meinung abzuklopfen und dann das Populäre zu tun. Aufgabe des Politikers ist es, das Richtige zu tun und es populär zu machen." Da war auch damals natürlich auch nur eine relativ romantische Vorstellung von dem, was Politik ist. Aber es vermittelt einen Eindruck vom moralischen Kompass, den viele Politiker noch hatten. Weniger Populismus, mehr politische Inhalte, die langfristig ausgerichtet waren.

Was mich wieder zur Kriegsgeneration bringt. Konrad Adenauer war zwar auch ein Freund der politischen Machtsicherung mittels eines engen Netzwerks aus Parteikollegen und Wirtschaft, aber zwei Zitate bringen seinen grundsätzlichen moralischen Kompass zum Vorschein, der heute offensichtlich vielen Abgeordneten fehlt:

"Vielen fehlt das Bewusstsein unserer trostlosen Ausgangslage von 1945. Sie denken und handeln nur aus den Überlegungen des Tages. Und doch dürfen wir niemals vergessen, dass das Trümmerfeld von 1945 die Folge eines verlorenen Krieges war."

Und gerichtet an andere Politiker sagte er

"Die Weimarer Republik ist zugrunde gegangen durch mangelnde Energie, durch Feigheit, Unfähigkeit und Mittelmäßigkeit der verantwortlichen Männer." (Hier zu finden)

In der heutigen Medienwelt sieht die Sache anders aus. Abgesehen, dass das Leitmotiv scheinbar nur noch aus Likes auf Onlineplattformen formuliert wird, verfahren viele, vor allem mittelmäßige Politiker nach Machiavelli: Ein moralischer Tabubruch, ein rückgratloser Populismus, führt nur dann zu Empörung und negativen Reaktionen in der Öffentlichkeit, wenn die genutzten Methoden nicht zum Erfolg geführt haben. Wo aber selbst der Zynismus von Machiavelli einen Schlussstrich zieht, gehen viele Politiker heute noch weiter. Das eigene Scheitern wird dann dem politischen Gegner angelastet.

Donald Trump hat daraus eine "Kunst" gemacht und sein Credo "Niemals einen Fehler zugeben" ist zum Leitmotiv moderner Politik geworden. Dass Friedrich Merz die Demonstrationen vor dem Adenauer-Haus nach der gemeinsamen Abstimmung mit AfD als Missbrauch des Demonstrationsrechts bezeichnete und gleichzeitig SPD und Grüne aufrief, die Demonstranten "zu mäßigen", zeugt von einem ähnlichen Machtverständnis. Nicht der eigene strategische Fehler (Abstimmung mithilfe der AfD über eine Entschließung, die kein Gesetz werden kann) ist das Problem, sondern die Kritik daran.

Merz hätte das Problem nicht, wenn sein moralischer politischer Kompass eine klare Grenze hätte. Ich will ihm gar unterstellen, dass er keinen moralischen Kompass hat. Aber offensichtlich fehlt seinem moralischen Kompass der Anstand. Und der besagt, dass man mit Feinden der demokratischen Grundordnung keine gemeinsame Sache macht. Und wenn Anstand und Ehrlichkeit in der Politik als Schwäche gelten, dann ist die Demokratie in Gefahr.