
"Alle bekloppt...". Ich bin, glaube ich, nicht der Einzige, der das in den vergangenen Jahren immer wieder gedacht hat. Oder täglich denkt. Der Ausruf ist zudem ein Eingeständnis der eigenen Unfähigkeit, in einem transformativen Abschnitt der Geschichte den Überblick zu bewahren. "Alle bekloppt..." ist ein Zeichen dafür, dass man aufgibt zu verstehen und sich ins Private zurückzieht. Gleichzeitig fühlt sich das gerade jetzt falsch an. Einfache Urteile helfen auch nicht weiter, im Gegenteil, sie sind Teil des Problems. Verstärkt wird das Problem durch die Komplexität der Fragen, mit denen man sich konfrontiert sieht. Wie positioniert man sich zu den Dingen?
Es gibt gegenwärtig viele Augenblicke, in denen die Welt vermeintlich einfachen Urteile verweigert. Wenn ein politischer Kommentator ermordet wird, dem zugleich vorgeworfen wird, Hass gesät zu haben, entsteht eine doppelte Abscheu: Einerseits die Abscheu vor dem mörderischen Akt, andererseits jene Genugtuung, die sich in manchen feierlichen Reaktionen regt: „Es geschieht ihm recht.“
Ambivalenz und ihre Grenze
Kant würde uns mahnen, dass Gewalt immer falsch ist, egal gegen wen sie sich richtet. Arendt würde hinzufügen, dass Gewalt nicht mit Macht verwechselt werden darf. Macht ist gemeinsames Handeln, Gewalt ist der Zusammenbruch des gesellschaftlichen Konsens. Doch beide Positionen, so erhellend sie sind, reichen nicht aus, um ein ambivalentes Problem zu lösen. Besonders dann nicht, wenn es um die Frage geht, wie sich die innere und äußere Demokratie weiterentwickeln soll.
Hier tritt Karl Popper auf den Plan. Sein Toleranzparadoxon zeigt die scharfe Kante: Eine tolerante Gesellschaft muss das Recht beanspruchen, die Intoleranten nicht zu tolerieren. Ambivalenz endet dort, wo sie zur Selbstzerstörung führt.
Im Falle offen nach außen getragener Gewalt ist die Grenze einfach zu ziehen. Doch die Ermordung eines politischen Gegners ist nur der Endpunkt einer Entwicklung, nicht deren Anfang.
Die Gewalt der Sprache
Gewalt beginnt bekanntermaßen nicht erst mit der Tat. Sie beginnt in der Sprache. Wer permanent gesellschaftliche Gruppen diffamiert, entmenschlicht, verspottet, bereitet den Boden, auf dem physische Gewalt gedeihen kann. Worte sind keine harmlosen Meinungen, sie sind Handlungen. Schon die Nationalsozialisten wussten das – das Hetzblatt "Der Stürmer" war nicht nur Propaganda, es war die ständige Wiederholung, die den Antisemitismus salonfähig machte. Wiederholung tötet die Empörung, weil sie Menschen abstumpft.
Heute sind es nicht mehr Karikaturen auf Zeitungspapier, sondern Memes in endlosen Feeds. Pedro, Black Pill, Groyper und andere aus Internetforen hervorgegangene neofaschistische Bewegungen, fluten das Internet mit ihren Botarmeen seit Jahren mit grenzwertigem Content. „Nur Ironie“, sagen ihre Verteidiger. Aber auch Ironie wirkt, wenn sie sich in ständiger Repetition ins kollektive Bewusstsein frisst. Das Gleiche gilt auch für religiöse oder dem linken Autoritarismus zugehörige Bewegungen.
Das Overton Window – Verschiebung des Sagbaren
Das Konzept des Overton Window beschreibt, wie Meinungen, die einst unsagbar waren, Schritt für Schritt normalisiert werden. Aus dem „Undenkbaren“ wird das „Radikale“, dann das „Diskutable“ – bis es schließlich im Zentrum der Debatte steht. Genauso wurde Antisemitismus in den 20er und 30er Jahren zur Massenmeinung. Genauso werden heute Diskursräume von Extremisten geschaffen, die dann von etablierten Parteien aufgegriffen werden. Und genau so arbeiten heute die Feeds der digitalen Gegenwart: durch ständige Wiederholung, durch die Verschiebung der Grenzen des Erträglichen.
Ambivalenz wird dabei selbst zur Falle. Denn wer sagt: „Man muss doch beide Seiten sehen“, trägt ungewollt zur Normalisierung bei. Wenn Sprache systematisch entmenschlicht, dann ist Ambivalenz nicht mehr Reflexion – sondern eine schleichende Kapitulation.
Byung-Chul Han und die Infokratie
Byung-Chul Han spricht in diesem Zusammenhang von einer Infokratie. In einer Welt, in der alles Information ist, verschwimmt der Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge, Ernst und Ironie. Das Meme, der schnelle Post, die endlose Wiederholung – all das wirkt nicht durch Argumente, sondern durch Überflutung. In dieser Flut wird jede moralische Unterscheidung erodiert.
Han beschreibt, wie diese ständige Reizüberflutung zu Apathie führt. Nichts scheint mehr ernst gemeint, alles ist Content. Doch genau diese Beliebigkeit öffnet den Raum für Intolerante: Ihre sprachliche Gewalt tritt nicht mehr als Gewalt auf, sondern als „eine weitere Stimme im Rauschen“. Es sorgt auch für eine moralische Kapitulation. Wenn alles gesagt werden darf, wenn die Grenzen permanent verschoben werden, wie kann da eine gesellschaftliche Moral und Ethik überleben?
Frühere Bindeglieder, wie die Religion oder der Wunsch, ein gemeinsames gesellschaftliches Ziel zu erreichen (Wiederaufbau, Futurismus) sind verschwunden. In das Vakuum der Orientierungslosigkeit hatte sich lange der wirtschaftliche Konsum gesetzt, doch der scheitert dieser Tage an seinem eigenen Erfolg und der monetären horizontalen Disparität des Neoliberalismus.
Zygmunt Bauman und die Sehnsucht nach Halt
Hier setzt Zygmunt Bauman an. Seine Diagnose der Liquid Modernity beschreibt eine Welt, in der alles instabil ist: Identitäten, Institutionen, Wahrheiten. In dieser „flüssigen Moderne“ sehnen sich Menschen nach Orientierung. Algorithmen der Social Media Apps liefern diese Orientierung scheinbar mühelos: Sie bauen Echokammern, die Bestätigung statt Irritation bieten.
Die Anziehungskraft dieser Blasen erklärt sich also nicht nur aus Propaganda, sondern aus einem zutiefst menschlichen Bedürfnis nach Sicherheit. Wer sich in der algorithmischen Blase bewegt, erlebt sich selbst nicht als manipuliert, sondern als Teil einer vermeintlichen Mehrheit. Und genau darin liegt die Gefahr: Die Infokratie stabilisiert den Haltlosen, indem sie ihn in einer Echokammer festbindet.
Die ständige Wiederholung bestimmter Themen, die wirtschaftliche Hoffnungslosigkeit mancher Bevölkerungsschichten in der westlichen Zivilisation und das Versagen vor allem linksliberaler Parteien, wie der SPD in Deutschland oder der Demokraten in den USA, die ihre fundamentalen gesellschaftlichen Überzeugungen aufgegeben haben, sind eine toxische Mischung, in der extreme politische und religiöse Rhetorik gedeihen kann. Sie wird angenommen, nicht weil man ihr mehr vertraut, sondern weil sie die scheinbar einzige Möglichkeit für den Einzelnen bietet, überhaupt noch politischen Einfluss in einer selbst empfundene Zwangslage zu nehmen.
Popper und die wehrhafte Demokratie
Wenn wir Zygmunt Bauman ernst nehmen, dann verstehen wir die Schwäche der Einzelnen besser. Aber Verstehen bedeutet nicht, dass wir sprachliche Gewalt dulden dürfen. Hier greift wieder Popper: Er erinnert uns daran, dass genau das der Moment ist, in dem die Demokratie Grenzen ziehen muss: Sie darf Intoleranz nicht schützen, auch wenn sie „Mehrheitsmeinung“ in einer Blase zu sein scheint.
Bauman erklärt uns, warum Menschen so leicht in Echokammern verharren. Popper zeigt uns, dass wir ihnen dennoch nicht das Feld überlassen dürfen. Ambivalenz mag eine Haltung der Reife sein – aber dort, wo sie zur Lähmung führt, wird sie selbst zum Risiko. Demokratie verlangt, dass wir verstehen, warum Menschen Halt suchen, ohne ihnen das Recht einzuräumen, diesen Halt in der Intoleranz zu finden.
Was ist die Lösung?
Ideen kann man nicht verbieten. Die Geschichte hat oft genug gezeigt, dass sie im Untergrund weiterleben, manchmal noch gefährlicher als zuvor. Doch es wäre ebenso falsch, sprachliche Gewalt einfach hinzunehmen, als sei sie nur ein schriller Ton im Konzert der Meinungen. Poppers Warnung gilt: Eine Demokratie darf Intoleranz nicht schützen, auch wenn sie sich in einer Blase zur vermeintlichen Mehrheitsmeinung aufbläht. Das darf aber nicht beim Autoritarismus enden.Die Antwort liegt also nicht allein im Verbot, sondern im Zusammenspiel: rechtliche Grenzen, kulturelle Gegenrede, strukturelle Resilienz. Hetze darf nicht unter dem Banner der Meinungsfreiheit marschieren. Doch genauso wichtig ist es, die Mechanismen sichtbar zu machen, mit denen Sprache zur Waffe wird. Wir müssen ihre Wiederholungen entlarven, die ironischen Masken herunterreißen, eigene Geschichten dagegenstellen.
Und wir müssen die Strukturen angehen, die das Gift verstärken. Algorithmen, die Radikales belohnen, dürfen nicht weiter als neutrale Technik gelten. Öffentliche Räume, die nicht dem Zynismus der Klickökonomie folgen, sind kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit. Bildung, so mühsam und langwierig sie ist, bleibt die einzige Impfung gegen die Verführungen der Echokammern.
Es gibt keine endgültige Lösung. Bauman hat recht: In der flüssigen Moderne ist alles instabil, und genau darin liegt die Sehnsucht nach Halt, die Menschen so anfällig für die falschen Gewissheiten macht. Doch Popper erinnert uns daran, dass wir nicht zusehen dürfen, wenn dieser Halt in Intoleranz gesucht wird.
Am Ende bleibt nur diese Haltung: Die offene Gesellschaft ist verletzlich und sie muss es bleiben, weil ihre Stärke in der Freiheit liegt. Aber gerade deshalb darf sie nicht naiv sein. Sie muss lernen, Ambivalenz auszuhalten und gleichzeitig Grenzen zu ziehen, wenn Ambivalenz zur Waffe der Intoleranten wird.
"Toleranz, auch Duldsamkeit, bezeichnet als philosophischer und sozialethischer Begriff ein Gewährenlassen und Geltenlassen anderer oder fremder Überzeugungen, Handlungsweisen und Sitten. Umgangssprachlich meint man damit häufig auch die Anerkennung einer Gleichberechtigung, die aber über den eigentlichen Begriff („Duldung“) hinausgeht."
Es gibt verschiedene Ebenen der Toleranz. Jene, die man selbst ausüben kann und jene, die von oder in einer Gruppe, Nation oder Religion ausübt. Während man über die grundsätzliche Bedeutung von Toleranz sicher nicht streiten kann und vor allem Katzen, oder generell Tierbesitzer in Toleranz ziemlich geübt sind, ist das bei größeren Gruppen schon etwas anders. Toleranz ist vor allem auch Empathie. Ich mag vielleicht nicht, was andere denken oder glauben, aber ich respektiere es. Elias Cannetti schrieb dazu mal:
"Die Empathie vollbringt das, was sich in der Masse nur als vorübergehende Erlösung und illusorisches Glück einstellt: Überwinden der Trennwände, Selbstentgrenzung und Selbstlosigkeit. Sie ist das rettende Gegenbild zur einverleibenden Macht."

Mit einverleibender Macht ist auch die Intoleranz gemeint und über den Zwiespalt zwischen Toleranz und Intoleranz zum einen und dem Unterschied von beiden Dingen auf der persönlichen und der staatlichen Ebene, habe ich in den vergangenen Wochen viel nachgedacht.
Dass die Welt sich in den vergangenen 30 Jahren mächtig verändert hat, dürfte mittlerweile jedem aufgefallen sein. Neue Konflikte sind aufgebrochen, alte Konflikte explodieren in kaum geahnter Brutalität, neue Weltmächte marschieren auf die Weltbühne und die Wirtschaft ist einer enormen Schieflage. Während man zu Hause sitzt und erschrocken auf die Gasrechnung starrt, verkomplizieren sich die Probleme. Und der gute Wille, die Probleme zur Zufriedenheit möglichst aller zu lösen, der schwindet wie das Eis in der Antarktis. Das alles führt vor allem dazu, dass sich die Meinungsfronten verhärten.
Dass sich auf der gesellschaftlich-politischen Ebene seit Jahren etwas bewegt, ist in fast allen Ländern sichtbar. Die Auflösung der Mitte ist ein sichtbares Zeichen. Die Volksparteien haben an Zuspruch verloren und vor allem die rechten, extremistischen Ränder sind erstarkt. Die AfD ist in Deutschland ein Zeichen dafür, die wachsende Popularität rechts-konservativer Parteien in Frankreich, Skandinavien oder Spanien ein weiteres. In den USA ist der liberale Konservatismus nur noch eine Randerscheinung und in vielen arabischen Ländern hat der extreme Islamismus immer mehr Anhänger gefunden.
Fronten der Diskussionen
Die Fronten in den Diskussionen verhärten sich, weil die Menge an Problemen und deren Komplexität immer größer werden. Man fühlt sich hilflos, findet keine Antwort und neigt dazu, ein Problem mit einem Schlag beenden zu wollen, anstatt den gordischen Knoten aufzudröseln. Die Demokratie, die linke- oder konservative Mitte, diejenigen, die Dinge diplomatisch abwägen wollen, werden aber von jenen in die Zange genommen, die auf eine radikale Lösung drängen. Die Demokratie selbst gerät so in Gefahr, auch weil sie gegenüber den extremen Meinungen zu tolerant ist. Aber wie geht man damit um?
Von Karl Popper, dem großen österreichischen Philosophen der Neuzeit, stammt folgender Satz.
"Wir sollten daher im Namen der Toleranz das Recht für uns in Anspruch nehmen, die Unduldsamen nicht zu dulden. Wir sollten geltend machen, dass sich jede Bewegung, die die Intoleranz predigt, außerhalb des Gesetzes stellt, und wir sollten eine Aufforderung zur Intoleranz und Verfolgung als ebenso verbrecherisch behandeln wie eine Aufforderung zum Mord, zum Raub oder zur Wiedereinführung des Sklavenhandels."
Es ist das bekannte Toleranz-Paradoxon unter dem Demokratien gerade besonders leiden. Ab wann muss eine Demokratie ihre Toleranz ablegen, weil ihr gegenüber intolerante Gruppen, die Freiheit der Demokratie ausnutzen, um sie abzuschaffen? Wie lange kann man also die AfD gewähren lassen, wie lange soll man Salafisten und extremistische Islamisten öffentlich marschieren lassen und ihnen die Freiheit zugestehen, in der sie daran arbeiten, in Europa ein Kalifat einzuführen.
In der bundesdeutschen Verfassung gibt sehr hohe Hürden, wenn es um das Verbot von Parteien oder Vereinen geht. Der dazugehörige bürokratische Prozess ist lang und kompliziert. Schon der Ausschluss eines einzelnen Mitglieds aus einer Partei ist langwierig. Dass das so ist, hat gute Gründe, die alle noch mit dem Jahr 1933 zu tun haben. Dass die Nationalsozialisten das gesamte demokratische System der Weimarer Republik in wenigen Monaten aushebeln konnten, hat dazu geführt, dass die Verfassung Deutschlands auf mehreren Ebenen dagegen Schutzmaßnahmen getroffen hat.
Diese Hürden werden aber immer mehr von Strömungen ausgenutzt, die die Demokratie abschaffen wollen. Einerseits, weil sie grundsätzlich nicht mit demokratischen Werten übereinstimmen, andererseits, weil sie damit schlicht ihre Machtbasis verbreitern wollen. Die sich in Auflösung befindlichen Ränder der politischen Parteien sind das Becken, in dem diese Gruppen fischen. Von der Politik der letzten Jahrzehnte enttäuschte Menschen, die keine andere Alternativen mehr sehen oder sehen wollen.
Und dann gibt es zusätzlich noch eine Gruppe aus den vor allem im letzten Jahrzehnt nach Europa gekommenen Migranten. Die einen haben keine historisch gewachsene Erfahrung im Umgang mit Demokratien, die anderen haben Schwierigkeiten, einen säkularen Staat zu akzeptieren, der im Gegensatz zu ihren religiösen Überzeugungen steht. Beide Gruppen machen dies auch auf Demonstrationen deutlich. Wie neulich in Berlin oder Essen.
Geschichte wiederholt sich
Historisch betrachtet, ist das nichts Neues. Gesellschaften neigen dazu, sich in eine Art tödliche Spirale zu begeben. Nach dem wirtschaftlichen Erfolg (wie zum Beispiel die 50er- und 60er-Jahre in Deutschland) tritt man in eine Phase der Selbstzufriedenheit ein. Hier waren es die 70er-Jahre) Es folgt eine Phase der Überregulierung (80er- und 90er-Jahre), vor allem in Zeiten wirtschaftlicher Schwäche. Einzelne Elemente einer Gesellschaft nutzen Machtpositionen aus und verhindern notwendige Anpassungen, die Gesellschaft driftet finanziell auseinander (seit den frühen 2000ern) Es kommt zu Aufständen, religiösem Eifer, politischen Ausfransungen usw. Tausendmal gesehen, es gibt unzählige Bücher dazu.
Eigentlich sollte man meinen, müsste man aus diesen gut dokumentierten Vorgängen der Geschichte, die zuletzt vor noch nicht mal 100 Jahren stattgefunden haben, etwas gelernt haben. Aber scheinbar ist das nicht der Fall. Die freiheitsliebenden Demokratien und Gesellschaften stehen der Intoleranz mit der gleichen Hilflosigkeit gegenüber, wie das Generationen vor ihnen der Fall war. Der Niedergang demokratischer Kulturen ist deutlich sichtbar.
Die Mittel der "wehrhaften Demokratie" bestehen vor allem aus langwierigen rechtlichen Prozessen, um ihre Feinde zu bezwingen. Aber reichen diese Mittel heute noch aus? Wie geht man mit Feinden um, die die Demokratie auslachen? Ich habe das Gefühl, dass die Demokratie dazu gezwungen sein könnte, ja vielleicht sogar gezwungen werden muss, bei einer ernsthaften Bedrohung Mittel anzuwenden, die ihrer Natur eigentlich widersprechen. Wenn Feinde der Demokratie diese von innen aushöhlen, wenn das Gewaltmonopol infrage gestellt wird, dann muss die Demokratie darauf eine Antwort haben. Es kann nicht sein, dass Rechtsextreme, Antisemiten oder Anti-Muslimische Kräfte, um nur mal einige Beispiele zu nennen, das Wesen und den Charakter einer Demokratie gefährden.
Womit ich wieder beim Toleranz-Paradoxon bin, das Karl Popper beschrieben hat. Wenn die Intoleranten die Bedingungen des Gesellschaftsvertrags verletzt haben, stehen sie daher nicht mehr unter dessen Schutz. Doch das schafft dann wieder das nächste Problem. Denn wer stellt fest, was intolerant ist und was nicht? Die oben beschriebenen Mittel dürfen nicht so weit reichen, dass sich die Demokratie dadurch wieder selbst gefährdet. Meint, es müssen Mittel sein, die durch einzelne, durch welchen Umstand auch immer an die Macht gekommene Gruppen, nicht ausgenutzt werden können.

Toleranz auf staatlicher Ebene ist eine schwierige Gratwanderung. Privat kann man das natürlich anders sehen, weil man nur Einfluss auf sein Umfeld hat. Was dann wieder zu einer Dissonanz zwischen Bürgern und Regierung führen kann. Man erlebt Momente, die man selbst kennt. Um mal ein populistisches Beispiel zu nutzen: "Warum wirft man Extremisten, die als Asylsuchenden in Deutschland sind, nicht sofort raus? Warum wirft man jemanden, der sich öffentlich den Tod dieser oder jener Gruppe fordert, nicht sofort in Gefängnis?". Es ist dann genau diese Dissonanz zwischen der eigenen gefühlten Toleranz, oder besser gesagt dem Ende der Toleranz, und dem, was der Staat darf und kann, die auch dazu führt, dass die Unzufriedenheit mit einer Regierung steigt. "Die machen ja nichts da oben".
Ich bin alt genug, um mich an die Zeiten in den späten 70ern und 80ern zu erinnern. Damals, als die RAF mit ihrem Terror Deutschland überzog. Die Reaktionen waren damals ähnlich. Ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung, auch in meiner Familie, plädierte für ein standrechtliches Erschießungskommando, sollte man einen Terroristen festnehmen. Das hat der Staat nicht gemacht und das war auch gut so. Der Staat machte, was er heute auch noch macht. Erst mal verhandeln, so wie bei der Entführung von Peter Lorenz, der wieder frei kam, als man etliche Gefangene entließ. Aber er machte auch, nach dem Verhandlungen nur wenig brachten, mit den Mitteln, die ihm zur Verfügung standen, sehr klar, dass die RAF eine Linie überschritten hatte. Die Toleranz gegenüber dieser Gruppe war aufgehoben, die Rechtsstaatlichkeit aber nicht.
Demokraten sind zu zögerlich
Ich glaube, dass Demokratien diese Fähigkeit haben und auch anwenden müssen. Und in manchen Fällen wenden sie sie einfach zu spät an. Wenn sie aber gar nicht oder zu spät handeln, dann verlieren sie entweder gegen die Intoleranten, die die Toleranz einer Demokratie ausnutzen. Oder sie treiben die eigene Bevölkerung in eine intolerante Haltung, die die Demokratie genauso gefährdet.
Zum Abschluss noch mal Karl Popper, denn er hatte meiner Meinung nach recht, als er schrieb:
"Unbegrenzte Toleranz muss zum Verschwinden der Toleranz führen. Wenn wir die grenzenlose Toleranz auch auf die Intoleranten ausdehnen, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaft gegen den Ansturm der Intoleranten zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet, und die Toleranz mit ihnen. - Mit dieser Formulierung will ich nicht sagen, dass wir zum Beispiel die Äußerung intoleranter Philosophien immer unterdrücken sollten; solange wir ihnen mit rationalen Argumenten begegnen und sie durch die öffentliche Meinung in Schach halten können, wäre eine Unterdrückung sicherlich höchst unklug. Aber wir sollten das Recht beanspruchen, sie notfalls auch mit Gewalt zu unterdrücken; denn es kann sich leicht herausstellen, dass sie nicht bereit sind, uns auf der Ebene des rationalen Arguments zu begegnen, sondern damit beginnen, jedes Argument zu denunzieren; sie können ihren Anhängern verbieten, auf rationale Argumente zu hören, weil sie trügerisch sind, und sie lehren, Argumente mit dem Gebrauch ihrer Fäuste oder Pistolen zu beantworten. Wir sollten daher im Namen der Toleranz das Recht einfordern, die Intoleranten nicht zu tolerieren."